Der Schatten des Caudillo
Über die Aktualität des Spanischen Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur
Von Georg PichlerGeorg Pichler lehrt und forscht als Literaturwissenschaftler an der Universidad de Alcalá in Madrid. Er ist Herausgeber des jüngst erschienenen Buchs »Camaradas. Österreicherinnen und Österreicher im Spanischen Bürgerkrieg 1936–1939«. Die Buchpremiere findet am 6. Oktober um 17.00 Uhr im Haus der Demokratie und Menschenrechte statt, Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin.
Auf einem der bekanntesten Fotos, das im Kontext des Spanienkriegs immer wieder gezeigt wird, sind der junge General Francisco Franco und der Gründer der Spanischen Legion, José Millán Astray, zu sehen, wie sie 1926 in der Kaserne von Dar Riffien im damals spanischen Protektorat Marokko ein Lied singen. Millán Astray war für seine brutale Kriegführung gegen die Rifkabylen berüchtigt, weltbekannt wurde er durch eine Auseinandersetzung mit dem Schriftsteller Miguel de Unamuno am 12. Oktober 1936, als er ihn, der sich gegen den Bürgerkrieg und den Schlachtruf der Legion »Viva la muerte« (»Es lebe der Tod«) aussprach, mit dem Ausruf unterbrach: »¡Muera la inteligencia! ¡Viva la muerte!« – »Tod der Intelligenz! Es lebe der Tod!« Millán Astray, der aufgrund seiner Kampfverletzungen nur mehr ein Auge und einen Arm hatte, kam zwar im Bürgerkrieg aufgrund seines Alters und seiner Behinderungen nicht zum Einsatz, doch war er für die franquistische Propaganda zuständig und einer der Begründer des Mythos von Franco.
»Gegen Rache und Unterdrückung«
In Madrid gibt es bis heute an die 200 Straßen und Plätze, die nach Persönlichkeiten der Franco-Zeit benannt sind, obwohl das »Gesetz des historischen Andenkens« von 2007 entsprechende Umbennenungen vorschreibt. Anfang 2016 wollte die damals neue Regierung der Hauptstadt unter der Podemos nahestehenden Bürgermeisterin Manuela Carmena diesen Zustand ändern. Eine eigens dazu einberufene, eher konservative Kommission einigte sich auf einen Minimalkonsens: 52 Straßen sollten einen neuen Namen erhalten. Darunter war auch die Calle del General Millán Astray, die ursprünglich Avenida de la Inteligencia heißen sollte, schlussendlich aber den Namen Calle de la Maestra Justa Freire erhielt und so eine bedeutende Pädagogin und Lehrerin der spanischen Republik zu Ehren kommen ließ, die die ersten Jahre des Franquismus im Gefängnis verbrachte. Bei der Gemeinderatssitzung am 15. September 2016 sprach sich eine Delegation von ehemaligen Angehörigen der Spanischen Legion öffentlich gegen die Namensänderung aus und bezichtigte Podemos des Terrorismus. Am 24. September protestierten im Zentrum von Madrid etwa 300 Rechtsradikale gegen die Namensänderung, unter anderem mit einem Plakat auf dem ohne jede Ironie zu lesen war: »Gegen Rache und Unterdrückung«.
In der erwähnten Gemeinderatssitzung wandte sich auch die konservative Volkspartei, Partido Popular (PP), gegen die Namensänderung mit dem Argument, Millán Astray habe bei seinen Einsätzen in den ehemaligen Kolonien, auf den Philippinen und in Marokko, zahlreiche Heldentaten vollbracht, habe die Legion gegründet, viel für die Armen getan, am franquistischen Aufstand jedoch nicht persönlich teilgenommen. Nach einem Mehrheitsbeschluss im Madrider Stadtparlament am 4. Mai 2017 aber schien der Neubenennung nichts mehr im Weg zu stehen – bis am 24. Juli die Stadtregierung bekanntgab, dass sie »eine richterliche Entscheidung« hinsichtlich der Namensänderungen abwarten würde, da mehrere Einsprüche gegen die Umbenennungen eingebracht worden waren. Am 2. August schließlich verbot ein Richter ausdrücklich die Umbenennung der Straße auf Antrag der Plataforma Patriótica Millán Astray, zu der sich die verschiedenen Legionärsverbände in der Zwischenzeit zusammengeschlossen hatten. Die Begründung lautete, dass die Straße bereits 1924 ihren Namen erhalten hätte. Auch bei Google Maps trägt die Straße nach einer Intervention der Plataforma wieder ihren alten Namen. Sucht man dort aber heute die Calle Justa Freire, so gelangt man zur Calle Millán Astray.
Allumfassende Indoktrination
Der Gedächtnistheorie zufolge müsste die Erinnerungen an den achtzig Jahre zurückliegenden Spanienkrieg (1936–1939) von einem umstrittenen »kommunikativen« Stadium in ein ruhigeres, umfassend sanktioniertes »kulturelles« Gedenken übergegangen sein. Dadurch, dass die Zeitzeugen nach und nach verschwinden, würde ein Ereignis, so die Annahme, seine politische und soziale Sprengkraft verlieren und langsam zu einer rein historischen Angelegenheit werden. Sieht man sich jedoch die seit dem Jahr 2000 erregt geführten Debatten rund um den Bürgerkrieg und die Franco-Diktatur an, so widerlegen sie diese These. Denn die Interpretation der historischen Ereignisse ist immer noch von starker Emotionalität geprägt und aktualisiert gleichsam das Historische im Gegenwärtigen, wie die bisweilen stattfindende Projektion heutiger politischer Topoi in die damalige Zeit zeigen.
In der ernstzunehmenden Geschichtswissenschaft hat sich ein in großen Zügen einheitliches Bild des Bürgerkriegs herausgebildet. Es ist unumstritten, dass er als ein Aufstand begann, der eine Reaktion von Oligarchie, Militär und katholischer Kirche auf die linken sozialen Tendenzen der Zweiten Republik war, geplant als rascher Putsch, der jedoch aufgrund des Widerstandes eines unerwartet großen Teils der Bevölkerung in einen Bürgerkrieg mündete.
Diese Einheitlichkeit existiert in der öffentlichen Debatte nicht. Von Anfang an standen sich zwei Narrative diametral gegenüber. Dabei betrachtet die Geschichtsinterpretation der Republikaner, selbst in mehrere Fraktionen gespalten, den Widerstand gegen den Putsch der Generäle als antifaschistischen Kampf. Diese Version wurde vor allem im Exil aufrechterhalten und fand in entsprechenden Publikationen ihren Niederschlag, die von großer Bedeutung für die spätere Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg waren.
Die franquistische Propaganda hingegen überzog während der fast vierzig Jahren dauernden Diktatur Spanien flächendeckend. Der Nationalkatholizismus wurde zur Staatsdoktrin erhoben, das Arbeitsleben in die ständestaatlichen Syndikate (Sindicatos verticales) gezwängt und die allgegenwärtige Guardia Civil überwachte die Bevölkerung. Der Bürgerkrieg war in dem streng kontrollierten Land der Kampf des Guten gegen das Böse. Es kam zu einer allumfassenden Indoktrination von klein auf, in Publikationen, auf Münzen, Briefmarken und Bildern, in Gebäuden, Kirchen und auf Friedhöfen sowie an zahlreichen Erinnerungsstätten wie etwa dem Valle de los Caídos im Nordwesten von Madrid. Die Gefallenen der putschistischen Seite wurden fast alle exhumiert und bestattet, ihre Familienangehörigen materiell und sozial entschädigt. Der Feind hingegen sollte ein für alle Mal aus Spanien verbannt, sollte real und ideell »mit der Wurzel ausgerottet« werden.
Nach dem Tod von Francisco Franco am 20. November 1975 wurde versucht, die Diktatur so reibungslos wie möglich in eine Demokratie zu verwandeln. Dieser Transición genannte Übergang hin zu einer parlamentarischen Monarchie verlief keineswegs so harmonisch und friedlich, wie üblicherweise behauptet. Einerseits gab es zwischen 1968 und 1983 rund 560 Todesopfer durch Terror von links und rechts, auf der anderen Seite mussten die politischen Spannungen zwischen den Repräsentanten der Diktatur und den Vertretern des Exils und der Zivilbevölkerung durch lange Verhandlungen und zahlreiche Zugeständnisse abgebaut werden. So gab etwa die Kommunistische Partei im Austausch für ihre Anerkennung durch den Staat ihren revolutionären Anspruch schrittweise auf und akzeptierte die Monarchie sowie die im wesentlichen von der Franco-Zeit übernommene spanische Flagge. Die beiden Amnestiegesetze der Jahre 1976 und 1977 betrafen weniger die linken politischen Häftlinge jener Zeit (bloß 89 Gefangene kamen durch sie frei), sondern schützen bis in die Gegenwart die Folterer und Mörder des Spätfranquismus vor strafrechtlicher Verfolgung. Anders als heute oft behauptet wird, war die Transición eine sehr bewegte Zeit. Es konnte erstmals ohne Angst diskutiert und ohne Zensur veröffentlicht werden, und so erschienen viele wichtige Bücher über den Bürgerkrieg und die Diktatur.
Pakt des Schweigens
Die Aufbruchstimmung endete mit dem Putsch des Oberstleutnants Antonio Tejero am 23. Februar 1981, der zwar scheiterte, aber vielen klarmachte, dass der Franquismus und mit ihm eine seiner Hauptbastionen, das Militär, immer noch große Macht hatte. Im Oktober 1982 gewann die Sozialistische Arbeiterpartei PSOE unter Felipe González die absolute Mehrheit im Parlament, und es begann eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs, des Hedonismus und des Vergessens. 1986 wurde Spanien Mitglied der Europäischen Gemeinschaft und Vollmitglied der NATO. Im gleichen Jahr, zum 50. Jahrestag des Bürgerkriegsbeginns, veröffentlichte die sozialistische Regierung ein Kommuniqué, in dem es hieß, der Krieg sei »endgültig Geschichte, Teil der Erinnerung der Spanier«, doch habe er keine »Präsenz mehr in der Realität« des Landes – eine Aussage, die ganz dem »Pakt des Schweigens« entsprach, der während der Transición ausgehandelt worden war.
Eine der Folgen dieser Abwendung von der Vergangenheit war, dass die demokratisch gewählten Regierungen kaum Interesse zeigten, die Spuren des Franquismus zu tilgen. Münzen mit dem Konterfei des Generalísimo waren bis in die 1990er Jahre im Umlauf, das letzte Reiterstandbild des »Caudillo« wurde erst 2010 entfernt. Die eingangs erwähnte Auseinandersetzung um Millán Astray in Madrid beweist, dass es vielerorts immer noch schwer fällt, den Franquismus aus dem Straßenbild zu tilgen.
Das Jahr 1996 stellte einen Wendepunkt in der Erinnerungspolitik dar, der erst um die Jahrtausendwende sichtbar werden sollte. Im März gewann der PP unter José María Aznar die Wahlen. Das rechte Lager nutzte das wiedererlangte Selbstbewusstsein und ließ die alten franquistischen Mythen in neuer Gestalt wiederauferstehen. Fernseh- und Radiosender, Verlage, Zeitungen und Internetportale – sie alle verbreiteten die politische Botschaft der Rechten und ihrer Regierung.
Zu jener Zeit entstand aber auch eine Bewegung, die sich dem historischen Andenken widmete und knapp sechzig Jahre nach dem Bürgerkrieg und fast ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Diktatur, die Opfer der franquistischen Repression nach wissenschaftlichen Kriterien zu exhumieren und die Geschichte neu aufzuarbeiten. Im Verein mit Historikern, die auf lokaler Ebene die kaum dokumentierten Verbrechen des Franquismus erforschten, rückte die Gewalt, die in ihren Ausmaßen bis dahin nicht bekannt gewesen, in den Mittelpunkt. Denn während die Gewalt auf seiten der Republik weitgehend spontaner Natur gewesen war, in den ersten Monaten Tausende Opfer forderte, ab dem Herbst 1936 durch die größere Kontrolle der Regierung jedoch abnahm – wenngleich sie nie ganz verschwand –, war die Gewalt auf seiten des Franquismus integrativer Bestandteil einer Strategie. Vom ersten Moment an gaben die Generäle den Befehl, »das spanische Volk« zu »reinigen« und alle »linken Elemente zu eliminieren«. Dieser »heiße« Terror blieb bis zum Herbst 1937 bestehen und wandelte sich bis weit in die Vierzigerjahre hinein zu einem Strukturelement des Unterdrückungsapparates der Diktatur: Es gab Konzentrationslager, Zwangsarbeit, überfüllte Gefängnisse, Kinder wurden ihren »roten« Eltern weggenommen, und alle als »rot« verdächtigten Personen streng überwacht. Die bisher schlüssigsten Zahlen dieser Gewalt stammen von den Historikern Francisco Espinosa und José Luis Ledesma, denen zufolge rund 200.000 Menschen bei Kriegshandlungen ums Leben kamen, im franquistischen Hinterland 130.199 Menschen ermordet wurden, auf republikanischer Seite 49.272.
»Wahrheit und Wiedergutmachung«
Die sogenannte Gedächtnisbewegung organisierte sich nun praktisch und theoretisch nach dem Vorbild der lateinamerikanischen Kommissionen zur Wahrheitsfindung und berief sich wie diese auf das Weltrechtsprinzip. So wurde etwa festgestellt, dass Spanien nach Kambodscha das Land ist, in dem es die meisten Opfer des »erzwungenen Verschwindens« gibt – bis heute sind noch immer mehr als 114.000 Opfer der franquistischen Repression nicht exhumiert. Die wichtigsten Forderungen der Gedächtnisbewegung lauten »Verdad, Justicia y Reparación« – Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung. Das heißt konkret:
– eine vom Staat finanzierte Exhumierung und Beisetzung möglichst aller »Verschwundenen«
– Entschädigungen für die Opfer der franquistischen Repression
– Aufklärung und Verfolgung der franquistischen Verbrechen
– mehr Mittel für die Untersuchung der historischen Fakten, freier Zugang zu allen staatlichen und privaten Archiven
– Revidierung der Transición, des Amnestiegesetzes und der Straflosigkeit der franquistischen Verbrecher
– Aufhebung und Annullierung aller Urteile und Strafen des Franco-Regimes
– soziale Gleichstellung der Opfer des Franquismus mit den Opfern von ETA.
Eine der Folgen der Bewegung war die Ley de Memoria Histórica, das »Gesetz des historischen Andenkens«, das nach einer dreijährigen Vorlaufzeit im Dezember 2007 verabschiedet wurde. Es bestimmte, dass alle franquistischen Symbole zu entfernen und alle Straßennamen, die auf den Franquismus und seine Vertreter verweisen, zu ändern seien. Ebenso stellte das Gesetz Entschädigungen für die Opfer der Franco-Diktatur und deren Angehörigen in Aussicht, aber auch Unterstützung für Familienangehörige der Opfern beider Bürgerkriegsparteien.
Zwischen 2006 und 2011 wurden insgesamt 25,1 Millionen Euro für Projekte der Memoria histórica ausgegeben, ein Drittel davon für Exhumierungen, der Rest für damit in Zusammenhang stehende Projekte und Dokumentationen. Bis April 2016 hatten die verschiedenen Organisationen rund 400 Massengräber öffnen und mehr als 8.500 sterbliche Überreste bergen und, so es möglich war, identifizieren und beisetzen lassen, all dies in privater Initiative.
Rückschritte
Die Reaktion des rechten Lagers war enorm. In Büchern und Medien wurde der Bewegung vorgeworfen, Geschichtsklitterung zu betreiben. Die katholische Kirche besann sich ihrerseits auf die eigenen Märtyrer: Johannes Paul II. sprach insgesamt 471 spanische Ermordete selig und stellte am 11. März 2001, wie er selbst meinte, einen persönlichen Rekord auf, als er diese Ehre 233 »Märtyrern« zukommen ließ. Am 13. Oktober 2013 wurden in Tarragona 522 »Märtyrer der religiösen Verfolgung des 20. Jahrhunderts in Spanien«, wie die offizielle Bezeichnung lautet, seliggesprochen, bis heute sind es 1.523. Bezeichnenderweise waren bei der Messe in Tarragona mehrere Minister anwesend, während noch nie ein Vertreter der Regierung an einer Bestattungsfeier von republikanischen Opfern teilgenommen hat.
Eindeutig war der Rückschritt, als nach mehr als sieben Jahren PSOE-Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero im November 2011 die Volkspartei unter Mariano Rajoy die Wahlen gewann. Seit je hatte der PP große Bedenken gegen eine allzu intensive Aufarbeitung der Vergangenheit und behinderte sie mit vielen parlamentarischen Initiativen. Kaum war die Partei an der Macht, kam es zu Kürzungen im Etat der Memoria histórica: Das Büro für die Opfer des Bürgerkriegs und der Diktatur wurde geschlossen, die sehr informative interministerielle Homepage der Memoria Histórica liegt seither brach, seit dem Jahr 2012 sind die Subventionen für jedwede Aktivitäten gestrichen – die Wirtschaftskrise kam als Vorwand gerade recht.
Worauf gründet sich dieser Widerstand, eine Gedächtnispolitik zu akzeptieren, die von der UNO und anderen internationalen Institutionen unterstützt wird? Und warum wird eine Geschichtsversion aufrechterhalten, die noch aus Zeiten der Diktatur stammt?
Einerseits entwickelte sich eine Haltung, die der Diktatur trotz all Wandlungen eine positive Bilanz ausstellte: politische und soziale Ruhe nach den Wirren der Zweiten Republik und des Bürgerkriegs; ein anfangs bescheidener Wohlstand, später, in den Jahren des Tourismus- und Baubooms, rascher Reichtum. Es handelt sich hierbei um den seit der Transición so genannten »soziologischen Franquismus« – das Fortleben der Diktatur im gesellschaftlichen Alltag, im Verhalten und Denken der Menschen: Autoritätsglaube und Unterordnung, Opportunismus und eine konservative Weltanschauung sowie feste ideologische Überzeugungen, die rasch in Aggression gegen Andersdenkende übergehen können – siehe den Umgang der Regierung mit Katalonien. Diese Verhaltensweisen scheinen den oft zitierten Satz des »Caudillo« zu bestätigen, alles sei »atado y bien atado«, festgezurrt und gut festgezurrt. Denn, so der Gedankengang der Apologeten des Systems, die von der Diktatur geschaffene, mehr oder weniger wohlhabende Mittelschicht würde gemeinsam mit den wirtschaftlichen und politischen Eliten den von ihr einmal angenommenen Habitus weiterleben wollen.
Hinzu kommt, dass ein großer Teil der heutigen politischen Führungsschicht aus Familien stammt, die in bestem Einvernehmen mit der Diktatur lebten oder gar gleich Ämter innehatten, und die später vor allem im PP, aber auch in der PSOE Karriere machten. Der Gründer von Alianza Popular, des späteren Partido Popular, Manuel Fraga, war während der Diktatur Informations- und Tourismusminister, sein Nachfolger an der Parteispitze, José María Aznar, ist Zögling einer während des Franqusimus nicht unbedeutenden Familie. Ganz und gar unverstellt hat der ehemalige Innenminister und EU-Parlamentarier Jaime Mayor Oreja, einst Sprecher des PP im Europaparlament, seine befürwortende Haltung zur Franco-Diktatur in einem Interview im November 2007 zum besten gegeben: »Warum sollte ich den Franquismus verurteilen, wo doch viele Familien ihn ganz natürlich und normal erlebten? (…) Es war ein Zustand außergewöhnlichen Wohlbehagens.« In diesem Sinn ist auch der Auftritt von Mayor Oreja im Juli 2006 vor dem Europaparlament zu verstehen, bei dem er sich im Gegensatz zu Vertretern aller anderen Parteien weigerte, die Diktatur zu verurteilen.
Wurzeln im Franquismus
Doch nicht nur die Wurzeln der heutigen Politik reichen in den Franquismus zurück, sondern auch die der Wirtschaft. Viele Firmen, die heute im spanischen Börsenindex Ibex 35 vertreten sind, wurden während der Diktatur gegründet oder nutzten Sozialgesetzgebung und Repression des Regimes, um rapide zu wachsen und Gewinne zu machen. Zahlreiche Unternehmen ließen gegen niedrigste Löhne die politischen Gefangenen des Franquismus für sich arbeiten, wofür sie, anders als etwa Firmen des Naziregimes, nie zur Rechenschaft gezogen worden sind. Banken, die sich von Beginn an auf die Seite der Aufständischen geschlagen hatten, machten lukrative Gewinne und sind bis heute fester Bestandteil des spanischen Finanzsystems.
Und auch die unverkennbare Praxis vieler rechter Medien, unter dem Anschein von Objektivität parteipolitische oder ideologische Propaganda zu betreiben, geht ebenso auf die Zeiten der Diktatur zurück wie die bis heute allgegenwärtige Korruption. Der Studie eines Teams um den ehemaligen Untersuchungsrichter Baltasar Garzón zufolge war die Korruption »das Salz bei der Zubereitung jedweder Wirtschaftstransaktion und erstreckte sich (…) auf alle Sektoren«. Sie überlebte die Transición und fraß sich »durch alle Parteien des politischen Spektrums sowie alle Bereiche der Verwaltung und des Privatsektors«.
Das vorherrschende Narrativ verschleiert all dies und behauptet, beide Seiten seien für den Bürgerkrieg verantwortlich zu machen. Die vorgeschlagene Lösung lautet demgemäß, die »Vergangenheit auf sich beruhen« zu lassen, um hoffnungsfroh in die Zukunft zu blicken. Doch die Verteidiger des Status Quo ziehen nicht in Betracht, dass die Vergangenheit eines großen Teils der Bevölkerung eben noch nicht zur Ruhe gekommen ist und dass es einer kollektiven Anstrengung bedarf, um die letzten, zahlreichen Reste von Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu thematisieren, ans Tageslicht zu bringen und den Opfern der franquistischen Repression dieselbe Behandlung zukommen zu lassen, wie sie die Opfer der republikanischen Gewalt erfahren haben.