Im Juli 1937, beim 2. Kongreß zur Verteidigung der Kultur, der inmitten des Krieges in Valencia und Madrid stattfand, kam es zu einer Begegnung zwischen zwei Fotografinnen. Eine von ihnen, Tina Modotti, sollte 1942 in Mexiko sterben; die andere, Gerta Taro – eigentlich Gerta Pohorylle – würde wenige Tage nach dieser Begegnung, von einem Panzer zermalmt, an der Front von Brunete ums Leben kommen.
Im Augenblick dieser Begegnung war Tina Modotti 41 Jahre alt, Gerta Taro 27. Tina, die 5 Jahre später ebenfalls sterben sollte, hatte der Fotografie völlig entsagt; Gerta stand am Beginn ihrer beruflichen Karriere.
Tina Modotti, nach ihrem Tod zunächst für drei Jahrzehnte vergessen, ist heute so etwas wie eine Kultfigur geworden, was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet ist, daß seit 1970 mehr als ein Dutzend Bücher über sie geschrieben wurden. Gleichzeitig wurden seither immer wieder Legenden über ihre Rolle innerhalb der Kommunistischen Bewegung in die Welt gesetzt, obwohl seit mindestens fünfzehn Jahren eine genauere Nachforschung in den Moskauer Archiven möglich ist.
Auch Gerta Taro blieb – bis auf den einen oder anderen in der DDR erschienenen Artikel anläßlich eines runden Jahrestages des Ausbruchs des Spanienkrieges – für lange Zeit unbekannt, obwohl es in Leipzig eine Straße gab, die nach ihr benannt wurde. (Was übrigens für Tina Modotti in ihrer Heimatstadt ebenfalls zutrifft). Erst das 1994 erschienene Buch von Irme Schaber bringt uns ihr Leben, Wirken und Denken näher.
Ich selbst beschäftige mich seit 23 Jahren mit dem Leben Tina Modottis und habe Gerta Taro sozusagen nur im Vorübergehen gestreift. Da aber der hundertzehnte Geburtstag Tina Modottis mit dem 70. Jahr des Beginns des Spanienkrieges zusammenfiel, da beide Frauen Fotografinnen waren und da beider Namen mit Spanien verbunden ist, werde ich versuchen, herauszuarbeiten, was Tina und Gerta verbindet, worin sie sich voneinander unterscheiden und wie ihre jeweilige Entscheidung, in Spanien zu fotografieren oder nicht, zu erklären ist.
Vielleicht ist ein kurzer biografischer Abriß der beiden Leben angebracht.
Zunächst einmal stammen beide Frauen aus ähnlichen sozialen Verhältnissen. Als Gerta Taro am 1. August 1910 in Stuttgart geboren wird, hat die mittlerweile 14jährige Tina, deren Vater zu den ersten Sozialisten in ihrer Heimatstadt Udine gehörte, bereits eine erste Erfahrung mit Emigration, gesellschaftlicher Ausgrenzung und Arbeiterkämpfen hinter sich und ist die einzige Ernährerin ihrer Mutter und ihrer vier Geschwister. Sie arbeitet 12 Stunden am Tag in einer Textilfabrik.
Genau wie Tina wächst Gerta zunächst in einem ärmlichen Elternhaus auf, dessen sie sich während der Schulzeit sogar schämt. Später wird sie, dank einer wohlhabenden Tante, wie die Tochter reicher Eltern erzogen. Unterdessen tauscht Tina die Existenz eines Arbeitermädchens gegen das Los einer Emigrantin auf Arbeitssuche aus und geht im Alter von 17 Jahren nach Amerika, wo bereits der Vater und die älteste Schwester leben.
Ist es bei Gerta die Tante, die für die Erziehung und Ausbildung des Mädchens aufkommt, so verdankt Tina ihren Zugang zu einer anderen gesellschaftlichen Schicht ihrem schauspielerischen Talent. Zwischen 1916 und 1918 gilt sie als der aufsteigende Stern am Himmel des italienischen Schauspiel- und Opernhauses von San Francisco. 1918 heiratet sie den Maler und Dichter Roubaix de l’Abrie Richey, in dessen Freundeskreis sie sich die Bildung erwirbt, die ihr in den nur vier Jahren ihres Schulbesuches in Italien versagt geblieben war. Irme Schaber spricht von Gertas gespaltener Kindheit und Jugend und von ihren Versuchen, das verarmte jüdische Elternhaus von der Außenwelt abzuschirmen. Tina Modotti lebt in den USA, als junge Frau, ebenfalls zwischen zwei Welten – der einer bohemehaften, teilweise anarchistischem Gedankengut nahestehenden Künstlerszene und der des Elternhauses, in dem Streiks, Aussperrungen, Verhaftungen von Arbeiterführern und Verfolgungen sogenannter „radikaler“ italienischer Einwanderer Hauptgesprächsthema sind.
Als Gerta, siebzehnjährig, für ein Jahr ein schweizerisches Internat besucht, hat die mittlerweile verwitwete Tina bereits zum dritten Mal das Land gewechselt und lebt in Mexiko. Sie ist jetzt dreißig und hat in den letzten 3 Jahren Aufmerksamkeit und Anerkennung als Fotografin gefunden. Ihr Lehrer, Edward Weston, war einige Jahre lang ihr Lebensgefährte, zunächst in den USA, dann in Mexiko. Er selbst hat Mexiko 1926 verlassen, und Tina lebt jetzt, 1927, mit dem mexikanischen Wandmaler und Kommunisten Xavier Guerrero zusammen. Sie hat in Mexiko eine Organisation gegründet, die aktiv gegen das Mussoliniregime in Italien wirksam wird und tritt im Herbst des Jahres in die KP Mexikos ein.
Im Frühsommer 1929 muß Gertas Familie nach Leipzig umsiedeln, wo sich ein gewisser sozialer Aufstieg der Familie vollzieht. Tina Modotti hat im Januar desselben Jahres ihren Lebensgefährten, den Kubaner Julio Antonio Mella verloren, der von gedungenen Mördern, die im Auftrag des kubanischen Diktators Machado gehandelt haben, erschossen wurde. Die Wochen nach dem Mord an Mella waren die wohl schwersten ihres Lebens, denn der Polizeichef Valente Quintana versuchte, unterstützt von der bürgerlichen Presse, den politisch motivierten Mord als ein „Verbrechen aus Leidenschaft“ darzustellen.
In dieser Zeit beginnt auch Gerta, sich intensiver für die politische Situation in Deutschland zu interessieren und gewinnt das Bewußtsein, daß sie durch das Erstarken der Nazis als Jüdin direkt bedroht ist. Sie schließt sich einem sozialistisch orientierten Turn- und Sportverein an und lernt einen Mann kennen, der für ihre weitere politische Entwicklung bedeutend sein wird und Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes ist.
Etwa um das Jahr 1932 begreift Gerta Taro – und hier zitiere ich Irme Schaber – „daß ihre langjährigen Bemühungen, der stigmatisierten Welt des Judentums zu entfliehen, umsonst gewesen waren und daß Rassismus und Antisemitismus sie eingeholt und auf ihre jüdische Herkunft zurückgeworfen hatten“. Unterdessen hat Tina Modotti in Mexiko als Sekretärin der Roten Hilfe sehr direkt Kenntnis vom Terror der Großgrundbesitzer gegenüber den Landarbeitern und den Landlosen bekommen. Die Kommunistische Partei, der sie angehörte, war verboten worden; sie selbst hatte illegal gearbeitet und war 1930 zusammen mit Dutzenden von mexikanischen Kommunisten und ausländischen Politemigranten verhaftet und des Landes verwiesen worden. Für kurze Zeit – ein halbes Jahr lang – hatte sie versucht, in Berlin als Fotografin Fuß zu fassen bzw. von dort aus zum Zwecke der illegalen Arbeit nach Italien zurückzukehren. Schließlich war sie im Oktober 1930 nach Moskau weitergereist, bereits mit der festen Absicht, im Leitungsgremium der Internationalen Roten Hilfe zu arbeiten. 1933, nach der Machtergreifung Hitlers, als Gerta Taro in Deutschland Flugblätter gegen Hitler herstellt und verteilt, geht Tina Modotti im Auftrag der Roten Hilfe nach Paris und organisiert dort, unter anderem, Solidaritätsaktionen zugunsten Georgi Dimitroffs, den die Nazis der Reichstagsbrandstiftung beschuldigt haben.
Bereits im Spätherbst 1933 hätten beide Frauen einander in Paris begegnen können. Tina organisiert die Hilfe für die Opfer des Naziterrors, Gerta muß sich in Paris, wohin sie ausgewandert ist, an Hilfsorganisationen wenden, um überleben zu können. Aber zu dieser Begegnung ist es wohl nicht gekommen, denn Gertas Freundeskreis setzte sich aus Mitgliedern und Sympatisanten der SAP zusammen, die sich von stalinistischen Positionen innerhalb der Linken abgrenzten, während Tina als Vertreterin einer Unterorganisation der Kommmunistischen Internationale tätig war. Allerdings scheint Gerta Taro noch auf der Suche nach einer definitiven „politischen Heimat“ gewesen zu sein, denn 1934 besuchte sie in Paris politische Schulungen und gehörte einem Theorie-Arbeitskreis um Johann Lorenz-Schmidt an, der Kommunist war und früher in Berlin die MASCH, die Marxistische Arbeiterschule, geleitet hatte. Übrigens gehörten Lorenz-Schmidt und seine Frau, die Schriftstellerin Anna Seghers, Anfang der vierziger Jahre in Mexiko zu dem kleinen, sehr reduzierten und ausgewählten Freundeskreis Tina Modottis …
Im September 1934, als Tina bereits wieder in Moskau bei der Roten Hilfe arbeitete, lernte Gerta den ungarischen Fotografen André Friedmann kennen, dem sie bald darauf in der Dunkelkammer und beim Verfassen von Bildunterschriften zur Hand geht. Zu dieser Zeit wird sie Mitglied der Association des Ecrivains et Artistes Révolutionnaires, einer Organisation, die, nicht nur in Frankreich, nach außen hin sehr breit und unsektiererisch auftrat, in Wirklichkeit aber von Kommunisten initiiert worden war. Gerta lebt nun auch mit Friedman zusammen und kreiert ihn sozusagen, um ihm Fotoaufträge zu verschaffen, – sie bestimmt seinen Haarschnitt, seine Mode, sein Äußeres, und sie erfindet für ihn und sich selbst Namen, die dem Betrachter ihrer Fotos im Gedächtnis haften bleiben werden: Er nennt sich von nun an Bob Capa, sie nimmt den Namen Gerta Taro an. Wieder eine Parallele im Leben der beiden Frauen: Sie sind mit einem Mann nicht nur als Liebende, sondern auch als Partnerinnen in der Arbeit verbunden, und sie erledigen für den Künstler an ihrer Seite all die unangenehmen, zeitraubenden Alltagstätigkeiten, die den Mann in seinem schöpferischen Schaffen belasten könnten. Während jedoch Edward Weston Tinas Tätigkeit anerkannte und mehrfach äußerte, er könne sich nur wünschen, ein bestimmtes Foto von Tina sei sein eigenes Werk, reagierte Capa anders: Seine und Gertas Fotos aus Spanien trugen stets das Copyright Capa, obwohl sie längst nicht alle von ihm aufgenommen worden waren. Und noch eine Parallele: Sowohl das Paar Weston/Modotti als auch das Paar Capa/Taro fotografierten oftmals ein und dasselbe Sujet, allerdings von verschiedenen Blickwinkeln aus.
Am 18. Juli 1936, als Franco und andere Generäle ihren Putsch gegen die spanische Republik begannen, befand sich Tina bereits seit einem halben Jahr in Spanien. Die Internationale Rote Hilfe hatte sie gemeinsam mit ihrem neuen Lebensgefährten Vittorio Vidali dorthin geschickt, damit beide die spanische Sektion der Roten Hilfe dabei unterstützten, die Amnestie für die 30 000 Menschen zu organisieren, die im Oktober 1935 nach der Niederschlagung eines Aufstands in Asturien inhaftiert worden waren. Sowohl Tina als auch Vidali arbeiteten als Instrukteure der IRH in Madrid, als der Putsch begann. Gerta Taro und Bob Capa lebten zu diesem Zeitpunkt in Paris und wollten sofort nach Spanien, wo sie am 5. August 1936 eintrafen. Ende August gingen sie nach Madrid, an den bedrohtesten Kampfabschnitt. Dazu sagt Irme Schaber, daß „das Verlassen des distanzierten und sicheren Beobachterstandpunktes dem Bedürfnis nach Teilnahme und Teilhabe, der konsequenten Solidarität, entsprang.“
Konsequente Solidarität wollte auch Tina Modotti üben, wenn auch auf eine andere Weise. Es ist übrigens nicht einmal bekannt, ob sie ihre Kamera aus Moskau mitgebracht hatte. Bis heute ist kein Foto bekannt, das nachweisbar in Spanien von Tina Modotti gemacht wurde. Es gibt lediglich ein Gerücht, demzufolge eines ihrer Fotos als Vorlage für ein Plakat gedient haben soll, das die Pasionaria darstellt …
Tina hätte ihre Tätigkeit als Instrukteurin ohne weiteres fortsetzen können, von einem sicheren Schreibtisch in einem Büro aus. Aber Solidarität bedeutete für sie, neben der organisatorischen Tätigkeit, eben auch direktes Eingreifen, und so ging sie als Krankenschwester und Küchenleiterin in das Arbeiterkrankenhaus von Madrid, wo die ersten Verwundeten von der Front versorgt wurden. Mitte Februar 1937 war sie mit dem kanadischen Arzt Norman Bethune in Almería. Die Faschisten hatten die Stadt Málaga pausenlos bombardiert, und die Stadt wurde evakuiert. Während Tina die Hilflosesten, die Frauen und Kinder, in Almería empfing und ihnen Unterkunft und Verpflegung besorgte, war Gerta in den Straßen der Stadt unterwegs und fotografierte die erschöpften Überlebenden dieses gewaltigen Exodus.
Irme Schaber schildert in ihrem Buch, wie allein das Erscheinen der jungen, schönen Gerta Taro an einem Frontabschnitt dazu beitrug, die Stimmung der Kämpfer zu heben. Von Tina Modotti ist bekannt, wie sehr sie in ihrer Jugend darunter gelitten hat, stets auf ihre Schönheit, auf ihr Äußeres, angesprochen zu werden. Irme Schaber bemerkt ganz richtig, daß für beide Frauen in einem bestimmten Abschnitt ihres Lebens „das Fotografieren ein Gegenentwurf zur Reduzierung auf Äußerlichkeiten“ gewesen sein könnte.
Während Tina dem Kongreß zur Verteidigung der Kultur bis zuletzt als Vertreterin der Roten Hilfe beiwohnte, ging Gerta Taro am 19. Juli an die Brunete-Front. Am 25. Juli wurde Brunete von den Faschisten zurückerobert. Gerta wollte am nächsten Tag nach Paris reisen. Auf dem Trittbrett eines Tourenwagens, der Verletzte transportierte, fuhr sie nach El Escorial. Als Flugzeuge der Legion Condor und italienische Bomber den Frontabschnitt beschossen, geriet ein republikanischer Panzer ins Schlingern, streifte die Wagenfront, riß Gerta vom Trittbrett und zerquetschte ihre Beine und ihren Unterleib. Gerta verstarb noch am 25. Juli und wurde am 1. August – es wäre ihr 27. Geburtstag gewesen – in Paris auf dem Friedhof Père-Lachaise beigesetzt. Zuvor hatte man ihren Sarg in Valencia aufgebahrt, damit Freunde und Unbekannte ihr die letzte Ehre erweisen konnten.
Wenn es auch zwischen Tina und Gerta einen Altersunterschied von 14 Jahren gab, so verband sie doch die gemeinsame Erfahrung des Versuchs, in einem von Männern dominierten Beruf einen Platz zu erobern und zu verteidigen. Und auch wenn sie in Spanien an unterschiedliche politische Gruppierungen gebunden waren, so einte sie die Parteinahme gegen den Faschismus nicht nur Francos, sondern auch Hitlers und Mussolinis, denn beiden wäre, falls die Faschisten siegten, die Rückkehr in die Heimat auf immer versagt worden.
Tina Modotti, die in Spanien nur unter dem Namen „Maria“ bekannt war, verdanken Tausende von spanischen Frauen und Kinder ihr Überleben. Gerta Taro hinterließ uns aufrüttelnde, ein starkes Engagement verratende Bilder von einem Krieg, dessen Ausgang entscheidend für den weiteren Verlauf der Geschichte sein sollte. Zwei Frauen, zwei Leben, zwei sehr persönliche Entscheidungen zwischen Dokumentieren und Eingreifen. Ich glaube nicht, daß es irgendjemandem von uns zusteht, darüber zu richten, welche dieser beiden Entscheidungen richtiger, nützlicher oder wertvoller war.
Christiane Barckhausen