Als ich mich Anfang März in dem andalusischen Bergdorf Torrox oberhalb der Costa del Sol einquartierte, wähnte ich mich, wenn ich auf das Meer und die hohen Berge schaute, dem Paradiese nah. Es ist bekanntlich nur eine Chimäre. Indes möchte ich keineswegs undankbar erscheinen, habe ich doch hier Großartiges erleben dürfen, beispielsweise das Picasso-Museum in Málaga oder das maurische Weltkulturerbe, die Alhambra in Granada (ebenso Lorca-Land!). Ich durchfuhr bzw. -wanderte traumhafte Landschaften, aber mir konnte dabei nicht entgehen, dass auch jeder nur freie Meter der intensivst betriebenen Monokultur geopfert wurde. Nicht selten beschwerten Plasteplanen und Bewässerungsanlagen die Erde. Ich sah keine natürlichen Wasserläufe mehr, keine Blüten, keine Insekten, keine Esel. Und an der Küste? Die von Lava schwarz-grauen Strände ruhten noch im Tiefschlaf. Die unendliche Promenade wurde beherrscht von altbundesdeutschen Paaren, die entlang von Elkes Stübchen und Wolfgangs Bäckerei die Zeit totschlugen. Ihren saturierten Gesichtern war nicht entnehmbar, ob sie je von Cervantes oder Lorca oder Alberti oder Arrabal oder Sastre, Goya oder Picasso oder Buñuel begeistert werden konnten. Oder gar den Spanischen Bürgerkrieg zur Kenntnis bekamen. Just hier, an der Stelle ihrer Häuser, an der 200 km langen Küstenstraße von Málaga nach Almeria hatte sich eine der tragischsten Episoden des Spanischen Bürgerkriegs ereignet. Als nämlich im Februar 1937 Málaga in die Gewalt der Franco-Putschisten und ihrer italienischen Verbündeten fiel, flohen hier über hunderttausend Menschen in Richtung Osten, fortwährend verfolgt, d.h. beschossen und bombardiert von den faschistischen spanischen, italienischen und deutschen Flugzeugen und Kriegsschiffen. Völlig erschöpft, erfroren und verhungert starben tausende Menschen oder lagen zerfetzt auf der Straße. Es war ein Massaker ohnegleichen. Zurecht ist in Spanien dieses Verbrechen nicht vergessen. Jedes Jahr im Februar findet ein Gedenkmarsch von etwa 100 Frauen und Männern auf der Küstenstraße N-340 statt, um an all die Opfer zu erinnern. Dabei werden sie in manchen Rathäusern empfangen, beileibe nicht in jedem, denn auch heute noch ist Spaniens Meinung zu diesem Krieg geteilt. Selbst nach Francos Tod 1975 hat nie eine wirklich tiefgehende Aufarbeitung der Geschichte, eine echte Versöhnung stattgefunden. Dennoch lassen sich mit etwas Wissen und Mühe hier kleinere Plätze, Straßen oder Denkmäler für die Opfer als auch Retter (in „jot w.d.“ Nr. 2 schrieb ich über die auf der Küstenstraße als Sanitäterin helfende Tina Modotti) ausmachen. Dem riesigen Strom von Flüchtenden eilten auch Spanier und Interbrigadisten, darunter das berühmte Tschapajew-Bataillon — bestehend aus 21 Nationen — der XIII. Internationalen Brigade, rettend entgegen. Inzwischen liegt eine Reihe von Kriegstagebüchern zu dieser Schlacht vor. Ein interessantes ist zweifelsfrei Ludwig Renns „Der Spanische Krieg“. Hierin ist u.a. der leidenschaftliche Einsatz der Interbrigadisten auf der Küstenstraße und den darüber liegenden Bergen sehr genau festgehalten. Renn, von adliger Herkunft (eigentlich Arnold Vieth von Golßenau) wurde Offizier, später Schriftsteller wie überhaupt ein besonderer Mensch. Beizeiten schon Mitglied der KPD, hängt er trotz Zuchthaus, Niederlage in Spanien und mexikanischem Exil seine Überzeugung nie an den Nagel. Er entschied sich nach dem Krieg bewusst für die SBZ und dann für ein Wirken in der DDR. Hier wurden seine Werke in höchsten Auflagen gedruckt und geschätzt. Über seinen beispielhaften Lebensweg existiert bis heute leider keine umfassende Biografie, auch kein Verlag mehr, der sein Werk, z.B. den Weltbestseller von 1928 „Krieg“, pflegt.
Für die Sache der einstigen Interbrigadisten, insbesondere der 2800 deutschen, ist seit Langem die Vereinigung „Kämpfer und Freunde der Spanischen Republik 1936 – 1939 e.V. (KFSR)“ aktiv. Zweimal im Jahr erscheint ihre Zeitung „NO PASARÁN“. Solche Schriften und nicht weniger die an der Front gesungenen unnachahmlichen Lieder von Ernst Busch vermitteln nicht nur die Größe des einstigen Kampfes — schließlich hatte mit dem Putsch der Franco-Generäle auch der 2. Weltkrieg begonnen —, sondern ebenso die Verpflichtung, sich der Ausbreitung faschistischer Unkultur mit dem mutigen „NO PASARÁN“ frühzeitig entgegenzustellen.
Trotz meiner kurzen Reise offenbarte sich mir die Schönheit Spaniens und seiner speziellen Literatur, aber zugleich auch ihre Verletzlichkeit. Von nun an werde ich sie noch besser verstehen und schätzen können. Gern folge ich Goethes Gedanken „Sprichwörter sind Völker“ und gebe spanische Kostproben seiner Gültigkeit:
Wer nicht raucht und nicht trinkt,
hat sich schon anders dem Satan verdingt
Wer sehr alt werden will, muss beizeiten anfangen
Ein frohes Herz kann Schnee in Feuer verwandeln
Wenn der Esel ein großer Esel ist,
hält er sich für ein Pferd
Karla Dyck
14. März 2023