Titelbild: Gurs – Hauptlagerstraße und Baracken, errichtet zunächst für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Spanien. Foto: Hauptstaatsarchiv Stuttgart.
Spanien 1939/40: „La Retirada“ – Rückzug, Flucht und Internierung
Eine historische – fiktive Reportage nach Motiven aus den Arbeiten von: Gustav Regler, Friedrich Wolff, Victor Grossmann, Bruno Frei, Gabriele Mittag, Hans Landauer und Gert Hoffmann.
Der Zusammenbruch der katalanischen Front markiert den Anfang vom Ende des Spanischen Bürgerkriegs. Eine Massenflucht beginnt, ganz Katalonien ist in Bewgung. Alle Orte auf dem Weg zur französischen Grenze sind mit Menschen vollgestopft. Ein nicht enden wollender Zug von Männern, Frauen, Kindern, Greisen, Zivilisten, Soldaten, Tieren, Fahrzeugen aller Art quält sich durch die katalanische Ebene Richtung Pyrenäen.
O4. Februar 1939: Passhöhe zwischen Portbou und Cerbere. Ein kalter Wind treibt Schnee- und Regenschauer vor sich her.
Es ist als kämen wir zu spät in eine Riesenversammlung, sie ist schon beendet, wir gehen durch die nach Hause eilenden Massen. Wir sind nun an der Grenze.
Einige Flüchtlinge haben in den Händen Erde, die sie beim Verlassen ihres Dorfes aufgegriffen haben. Ein Garde-mobile Mann öffnet eine solche Faust mit Gewalt und verstreut verächtlich die Erde.
Am Nachmittag kommt die republikanische Armee.
Von weitem sehen wir sie anmarschieren, sie tragen das Gewehr ordentlich geschultert, das Gewehr der verzweifelten Siege, das Gewehr von Madrid, Guadalajara, Belchite und vom Ebro. Der erste Soldat legt sein Gewehr nieder; ehe er weiter geht, hebt er es noch einmal auf, tastet über seinen Kolben, den Lauf. Einem Garde-mobile Mann geht das zu langsam, er reisst dem Spanier das Gewehr aus der Hand, so als ob er Angst hätte, der Spanier würde schießen.
Vom 31. Januar bis zu 9. Februar 1939 gehen 453 000 Spanier über die Grenze nach Frankreich, davon 270 000 Soldaten der republikanischen Armee.
Allein am Grenzübergang Portbou – Cebere sind es ca. 100 000.
Februar 1939: „Allez, allez!“ tönt es in den Ohren der Flüchtlinge, die von der Garde-mobile über die Küstenstrasse gescheucht werden.
Von dieser Strasse gehen nacheinander die Zufahrtswege zu den Auffanglagern Argeles .sur- mer, Saint Cyprien und Bacares ab.
Wir mochten an die 35 Kilometer gegangen sein, als unsere Kolonnen zum Stillstand kommen. Von vorne kommt die Information, dass es nicht mehr weiter geht, wir sind am Meer angelangt. Müde, hungrig und durstig lassen wir uns in den Sand fallen. Schlafen, endlich nicht mehr laufen müssen, nur noch schlafen!
Der eiskalte Wind vom Meer oder den Pyrenäen macht uns wieder wach. Es gibt keinen Schutz, keinen Unterstand, wir graben Löcher in den Sand und legen uns hinein.
Saint Cyprien ist nichts weiter als ein Stück eingezäunte Sandwüste, auf der vierten Seite das Meer.
Es gibt nichts – kein Trinkwasser, nichts zu Essen, keine sanitären Einrichtungen. Das erste, wofür die französischen Behörden sorgen, ist die Aufstellung von Wachtürmen mit MG – Besatzung.
In den ersten Tagen wird die Versorgung ausschließlich durch Hilfsorganisationen und Solidaritätsaktionen notdürftig organisiert: Pariser Metallarbeiter schicken Brot, in den Brotsäcken die aktuelle Ausgabe der „l’humanite“ versteckt.
Viele sterben in diesen ersten Wochen.
In Saint Cyprien waren 80 000 bis 90 000 Menschen untergebracht.
April 1939: LKW rumpeln über die Route Nationale 635. Zwischen den Ortschaften Oloron-Saint Marie und Navarrenx biegen sie ab, halten kurz vor einem Schlagbaum und fahren dann in die lange Lagerstrasse ein.
Wieder ertönt das penetrante „allez, allez“ der Garde mobile, die Menschen springen von der Ladefläche der LKW.
Die ersten Spanienkämpfer sind im Camp de Gurs eingetroffen. Bis August 1939 sollten an die 20 000 Spanienkämpfer, darunter 6 000 Freiwillige der Internationalen Brigaden aus 52 Nationen hier interniert werden.
Das Lager Gurs wurde in 42 Tagen aus dem Boden gestampft. 382 Baracken auf 24 Hektar, aus einfachen Brettern mit Dachpappe verkleidet, schützen sie kaum vor Wind und Kälte. Ein zwei Meter hoher Stacheldrahtzaun umgibt das Lager. Die sanitären Bedingungen sind katastrophal, bei Regen verwandelt sich der tiefe Ackerboden in einen einzigen Morast.
Allein ein Gang durch die zwanzig Meter einer dieser Baracken, die mit bis zu 160 Mann belegt sind, ist ein Gang durch das antifaschistische Europa:
Uns gegenüber, gleich in der oberen Box, liegen zum Beispiel Tschechoslowaken der Interbrigaden, neben ihnen die Polen, dann die Ungarn und nach der anderen Seite die Italiener, dann die Jugoslawen.
An den langen dunklen Abenden erzählen die Kameraden ihre Geschichten, die polnischen Bergarbeiter, die ungarischen Studenten, die italienischen Terrassiers. Für sie ist die Gefangenschaft nur eine Unterbrechung des Krieges, die Baracke nur eine seltsam veränderte, aber im Grunde immer gleich bleibende Welt des Schützengrabens. Es gilt die Zeit zu nutzen, Körper und Geist zusammen zu halten für den nächsten Einsatz – und es gilt auch hier, hinter Stacheldraht, zu widerstehen.
05. September 2009: Camp de Gurs – unter diesem Schriftzug sind zwei Reihen Stacheldraht in die Mauer des Erinnerungspavillons eingelassen.
Ein Laubwald ist auf dem Areal des Lagers gewachsen, alle Spuren scheinen verwischt. Doch es gibt sie:
– Die Betonsockel der Wasser-Zisternen, von den Häftlingen ironisch „chateau de l’eau“ (Wasserschloss) genannt.
– Eine Betonplatte, auf der eine Küchenbaracke stand.
– Auf dem Friedhof in der rechten Ecke die Gräber der republikanischen Spanienkämpfer, jedes geschmückt mit Bändern in den Farben der spanischen Republik von 1936.
Auf einem Grab frische Blumen – der Grabstein trägt einen baskischen Namen.
14.Juli 1939: Nationalfeiertag, Frankreich gedenkt des Sturms auf die Bastille, des Beginns der französischen Revolution.
In Gurs sind tausende von Interbrigadisten angetreten – in ihren alten Formationen, geführt durch ihre alten Offiziere.
Nach dem Fahnenappell befiehlt der Sergeant der Garde – mobile: „Rühren!“
Aber es rührt sich nichts. Fassungslos starrt der Sergeant auf die vor ihm Stehenden. Reihen.
In die Stille hinein befiehlt eine Stimme aus ihren Rehen: „Garde a vous!“ (Stillgestanden)
Und aus tausend Kehlen ertönt die Marseillaise.
Der Gesang endet, wieder befiehlt die Stimme: „Rühren!“
Und die Interbrigadisten marschieren zurück zu ihren Unterkünften, sie marschieren wie sie durch die Strassen von Madrid marschiert sind: eine Armee, kein Gefangenenhaufen.
Frühjahr 1940: Besprechung der Leitung der Interbrigadisten mit dem Vertreter des Lagerkommandanten. Am Schluss der Besprechung teilt dieser mit, der Herr Kommandant halte die vierfache Stacheldrahtumzäunung für unzureichend. Sie biete nicht genügend Sicherheit gegen mögliche Fluchtabsichten. In der nächsten Stunde sollen deshalb Arbeitsgruppen zur Verstärkung der Stacheldrahtumzäunung bereit gestellt werden.
Der Vertreter der Interbrigadisten antwortet darauf mit großer Entschiedenheit:
„Mon Capitain, ich bitte Sie, dem Herrn Kommandanten mitzuteilen, dass wir für eine solche Arbeit nicht zur Verfügung stehen. Nicht ein einziger Mann wird dazu auch nur eine Hand rühren. Ein solcher Befehl bedeutet für uns nicht nur eine harte Bestrafung. Er ist gleich zusetzten mit der Aufforderung an einen zum Tode Verurteilten, sein eigenes Grab zu schaufeln. Wir brauchen nicht noch mehr Stacheldraht. Im Gegenteil. So wie bisher werden wir weiter darum kämpfen, dass dieser Stacheldraht fällt.“
„Mon Capitain“ steigt das Blut zu Kopfe, von Befehlsverweigerung ist die Rede. Die Besprechung wird abgebrochen.
Kurz danach werden von der Lagerkommandantur Gruppen zur Arbeit angefordert. Welche Arbeit die Gruppen verrichten sollen, wird nicht gesagt. Als sie erfahren, dass sie eine weitere Rolle Stacheldraht anbringen sollen, rühren die eingeteilten Kameraden keinen Finger. Sie werden von der Garde – mobile in eine Baracke geführt, wo ihnen gegen ihren Widerstand die Haare geschoren werden. Dann führt man sie in die Strafbaracke. Nachdem 120 Kameraden diese Schikane unterzogen wurden, kommt die Antwort der Interbrigadisten:
4 000 Interbrigadisten lassen sich eine Glatze scheren und demonstrieren hoch erhobenen Hauptes entlang des Stacheldrahts, singend und parolen rufend!
Da fährt der Kommandant in seinem Citroen in die Lagerstrasse ein, steigt mit hochrotem Kopf aus, dreht aber auf dem Absatz wieder um und braust davon Richtung Kommandatur.
April 1940: Ab April 1940 werden die Spanienkämpfer in andere Lager verlegt. So kommen 800 von ihnen nach Vernet, andere nach Rivesaltes, ein großer Teil der deutschen und österreichischen Interbrigadisten wird in Lager an der belgischen Grenze verlegt.
Viele fallen in die Hände der Nazis und werden in Konzentrationslagern in Deutschland geschunden und ermordet. Aber Tausenden gelingt die Flucht, oft über verschlungene Umwege kommen sie zurück nach Frankreich, tauchen unter und sind wieder da – zum nächsten Einsatz.
Nimes, 24. August 1944: An der Spitze der Parade aus Anlass der Befreiung Nimes marschieren deutsche und österreichische Antifaschisten, ehemals Kämpfer der internationalen Brigaden in Spanien, heute Mitglieder der Brigaden „Montaigne“ und „Bir-Hakim“ der französischen Partisanenbewegung, dem Maquis.
Otto Kühne ist ihr Kommandant. Von Mai 1937 bis August 1938 kämpfte er in Spanien in den Reihen der XI. Internationalen Brigade als Brigadekommisar. Seit 1943 helfen die ehemaligen Spanienkämpfer bei der Ausbildung von Sabotagetrupps der französischen Widerstandsbewegung.
1944 sind bis zu 200 000 Widerstandskämpfer im Rücken der deutschen Wehrmacht aktiv, Otto Kühne kommandiert eine Gruppe von 2 700 Kämpfern. Um ihren Mut zu würdigen, marschieren sie an der Spitze der Parade. Otto Kühne wird erster Stadtkommandant von Nimes.
Sommer 1940: Nach Kriegsausbruch durchstreifen die Gendarmen jeden Morgen die Baracken und fordern die Spanier auf, sich freiwillig zur Fremdenlegion zu melden. Man wolle, so General de Gaulle „mit französischen Streitkräften an der Schlacht in Afrika teilnehmen.“
Tausende Spanier lassen sich überreden, sie kämpfen im Tschad und in Kamerun. Als im Sommer 1943 in Afrika Soldaten für die Rückeroberung Frankreichs rekrutiert werden, sind die Spanier wieder dabei: 20% der 16 000 Soldaten, die sich zur 2. Panzerdivision melden, sind Spanier.
Paris, 24. August 1944: Guadalajara, Brunete, Madrid, Teruel, Ebro, Guernica, Santander, Belchite – so lauten die Aufschriften auf den Seitenwänden der gepanzerten Kettenfahrzeuge, die als erste nach Paris eindringen, um die Stadt zu befreien. Es sind die Namen der großen Schlachten des spanischen Bürgerkriegs.
Amado Granell, Bamba, Martin Bernal, Montoyo, Moreno heissen die Männer, die in diesen Fahrzeugen sitzen – es sind Spanienkämpfer, jetzt Angehörige der neunten Kompanie der zweiten französischen Panzerdivision, der „Nueve“, der spanischen Kompanie.
30.9.2006: Passhöhe zwischen Port Bou und Cebere. Der Himmel ist bedeckt, es ist feuchtwarm, über die Passshöhe weht ein böiger Wind. Es gibt hier keine Grenze mehr, nur eine verlassene Grenzstation, die Reste eines Schlagbaums – Niemandsland zwischen Spanien und Frankreich.
Ein Gedenkstein mit der Aufschrift:
„Gewidmet den 100 000 Männer, Frauen, Kindern, spanischen Republikanern und Internationalisten, die nach drei Jahren Krieg gegen den Francismus hier den Weg ins Exil nahmen. Sie überschritten die Grenze von Portbou – Cebere im Februar 1939 und wurden die Wegbereiter des antifaschistischen Kampfes in Europa.“