BUCHTIPP: Spaniens verborgene Geschichte – ein Foto-Tableau von Miquel Gonzalez.
Im Jahr 1977 erließ Spanien eine Amnestie für die zur Zeit des Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur begangenen Verbrechen. Miquel Gonzalez genügt dieser Scheinfrieden nicht. Er hat an Orten fotografiert, die emblematisch sind für die unbewältigten Traumata des Landes.
Von Angela Schader, Gilles Steinmann.
Wer die herbe Schönheit spanischer Landschaften schätzt, würde wohl auch gern durch diesen Eichenhain in den Bergen von Torozos wandern. Aber genießen kann man den Ort nur, wenn man seine Geschichte nicht kennt: Während des Spanischen Bürgerkriegs wurden hier Hunderte Menschen exekutiert und in Massengräbern verscharrt, die sie teilweise selbst hatten ausheben müssen. Der Staat lehnt es bis heute ab, sich mit den Schicksalen der weit über hunderttausend Opfer des Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur zu befassen: Ein 1977 erlassenes Amnestiegesetz verhindert die Strafverfolgung der an den damaligen Verbrechen Beteiligten, auch eine gesellschaftliche oder politische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit fand nie auf breiter Ebene statt. Miquel Gonzalez allerdings geriet in den Sog der verschwiegenen Geschichte: Er hat Orte wie diesen aufgesucht – oft vor Sonnenaufgang oder spätabends, denn zu diesen Tageszeiten verrichteten die Exekutionskommandos in der Regel ihr entsetzliches Werk.
Zur Stunde, da Gonzalez den Campo de Bota in Barcelona fotografiert, liegt das Terrain so leer und unbelebt, als setzte kein Mensch je einen Fuß darauf. Vergessen die Zeit, als sich hier die miserablen Behausungen armer Einwanderer drängten; vergessen auch die Jahre, in denen der Campo dem Franco-Regime als Exekutionsplatz diente. Politische Gefangene, die in summarischen Verfahren abgeurteilt worden waren, wurden von den umliegenden Haftanstalten hierhergekarrt und von Soldaten und Freiwilligen erschossen; die Leichen verschwanden danach in einem Massengrab, den blutgetränkten Sand überließ man der nächsten Flut. Mehr als 1700 Menschen starben hier, unter ihnen elf Frauen. Mittlerweile erinnert nicht einmal mehr der Name an die Geschichte des Ortes: Er wurde in Parc del Fòrum umbenannt und soll in einen Park verwandelt werden.
Als in Spanien 1977 das Amnestiegesetz für die während des Bürgerkriegs von 1936–1939 und in den Jahrzehnten der Franco-Diktatur begangenen Verbrechen ausgesprochen wurde, geschah dies erklärtermaßen im Namen des Friedens. Aber die Maßnahme kam auch der Tendenz entgegen, das Geschehene totzuschweigen und die Opfer dem Vergessen zu überantworten. Etwa 114 000 Menschen waren in jener Periode verhaftet, ermordet und in Massengräber geworfen worden; viele der heute bekannten 2382 Grabstätten sind nicht einmal gekennzeichnet, geschweige denn untersucht worden. Ein Denkmal für die Ermordeten findet sich nahe einer Exekutionsstätte in den Bergen von Torozos; es markiert den Ort, wo franquistische Patrouillen Busse anzuhalten und zu durchsuchen pflegten. Die einfache Stele wird immer wieder besudelt; Ressentiment und Hass kann auch ein gesetzlicher Erlass nicht einfach beilegen.
Teneriffa ist ein Sehnsuchtsort – nicht nur für moderne Touristen. Die große amerikanische Dichterin Emily Dickinson hat der Insel, ohne sie je gesehen zu haben, ein hinreißendes Gedicht gewidmet: «Tag – wirft dir sein rotes Adieu zu / Dämmerung – Truppenschau von Saphir!», heisß es in dem atemlosen Lobpreis. Wären die Farben in Miquel Gonzalez’ Aufnahme etwas intensiver, sie passten perfekt zu diesen Zeilen. Aber der Fotograf hatte anderes im Sinn, als er den bei San Andrés gelegenen Küstenabschnitt fotografierte. Auch auf der Insel ermordeten die Franquisten nach dem Putsch von 1936 mehrere hundert Menschen; viele Opfer – manche tot, manche noch lebend – wurden an diesem Ort in mit Steinen beschwerten Säcken ins Meer geworfen. Gonzalez erfuhr von einem Mann, den Fischer retten und in einer Höhle verstecken konnten. Monatelang versorgten sie ihn heimlich mit Nahrung, aber am Ende beschloss der Mann, sich zu stellen.
Man sagte ihnen, sie würden freigelassen. Oder es hieß: «Wir gehen spazieren.» Aber der Weg führte nicht weiter als bis zu der Stelle, wo die Wagen der Falangisten warteten. Sie brachten die Gefangenen hierher, auf den waldigen, in der Nähe von Burgos gelegenen Monte de Estépar. Mehr als dreihundert Menschen wurden an dieser Stelle in den ersten Monaten des Spanischen Bürgerkriegs, zwischen August und Oktober 1936, exekutiert und in vorbereitete Massengräber geworfen. Während der Staat es vorzieht, die Toten ruhen zu lassen, bemüht sich seit der Jahrtausendwende die Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica (Verein zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses) darum, die Gräber zu öffnen und die Überreste der Ermordeten zu bergen und zu identifizieren. Die etwas abgesenkte Fläche im Vordergrund der Aufnahme ist eines von rund 500 bisher untersuchten Gräbern; es barg die Überreste von sechsundzwanzig Menschen. Die Arbeit des Vereins muss ganz von Stiftungen und privater Hand finanziert werden, die Regierung unterstützt sie nicht.
Miquel Gonzalez: Memoria Perdida. Ipso Facto Publishers, Utrecht 2018. 128 S., €45.00. Die Ausstellung ist in der Festung Castell de Montjuïc, Barcelona, vom 10.5. bis 10.9.2018.