Kampf um Gerechtigkeit
Vor zehn Jahre verabschiedete das spanische Parlament das sogenannte Erinnerungsgesetz. Die Straffreiheit für die für hunderttausende Morde Verantwortlichen der franquistischen Diktatur wurde damit nicht beendet
Von Silke Hünecke
»Würde, Wahrheit, Erinnerung und Gerechtigkeit« lauten die Forderungen der spanischen Bewegung für das Gedenken an die Opfer des Franco-Regimes – Demonstration zur Unterstützung des damaligen Ermittlungsrichters Baltasar Garzón am 24. April 2010 in Madrid
Foto: Susana Vera/Reuters
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Silke Hünecke ist Politologin. Von ihr erschien zuletzt in der Münsteraner Edition Assemblage: Überwindung des Schweigens. Erinnerungspolitische Bewegung in Spanien, 304 Seiten, 24,80 Euro
Am 31. Oktober 2007 wurde mit der Mehrheit der sozialdemokratischen PSOE, die auch die Regierung stellte, das Erinnerungsgesetz, das sogenannte Ley de Memoria Histórica, beschlossen. Damit wollte sich die Regierung der Vergangenheit stellen. Denn der fehlende Bruch mit der franquistischen Diktatur (1939–1975/77) hatte eine ernsthafte Aufarbeitung jahrzehntelang verhindert.Gegenwärtige gesellschaftliche Prozesse im spanischen Staat sind ohne einen Blick in die Vergangenheit nicht zu verstehen. Neben dem Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) und der darauf folgenden Diktatur ist es insbesondere der Transición genannte Übergangsprozess zur parlamentarischen Monarchie, der die Gegenwart prägt. Auch die zentrale Ursache für die jahrzehntelange unzureichende Vergangenheitsbearbeitung geht auf die Transición und die in ihrem Rahmen vollzogene Amnestiegesetzgebung von 1977 zurück.
»Franco murio en la cama« (Franco starb im Bett) lautet ein Ausspruch, der oft aus dem Mund ehemaliger Aktivistinnen und Aktivisten des antifranquistischen Widerstands zu hören ist. Denn trotz massiver Proteste und großangelegter Streiks war es den verschiedenen Bewegungen während des Spätfranquismus in den Jahren zwischen 1969 und 1977 nicht gelungen, die fast vierzig Jahre währende Diktatur zu stürzen. Statt dessen war der selbsternannte »Führer« am 20. November 1975 im Alter von 82 Jahren seiner Parkisonkrankheit erlegen.
Dabei war der antifranquistische Widerstand in der Spätphase durch breite gesellschaftliche Mobilisierungen vor allem von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie von Studierenden geprägt. Und dies trotz der außerordentlich brutalen Repression, wofür die wiederholte Ausrufung des Ausnahmezustands, die Burgos-Prozesse gegen Angehörige der ETA, Verfahren gegen Mitglieder der verbotenen gewerkschaftlichen Comisiones Obreras sowie die Hinrichtungen von vermeintlichen »Terroristen« wie dem Katalanen Salvador Puig Antich 1974 stehen. Insbesondere das tödliche ETA-Attentat auf den designierten Franco-Nachfolger Carrero Blanco am 20. Dezember 1973 und die Nelkenrevolution in Portugal 1974 verstärkten die Hoffnungen auf ein baldiges Ende der Diktatur. Weitverbreitet war die Annahme, dass mit dem Tod Francos am 20. November 1975 ein demokratischer Wandel und damit mehr Freiheiten kommen würden. Doch statt eines Bruchs mit der Diktatur bestieg zwei Tage nach dem Tod des Diktators König Juan Carlos, der bereits als Jugendlicher aus dem Exil nach Spanien geholt und ausgebildet worden war, den Thron – so, wie es Franco zuvor bestimmt hatte.
Der Pakt des Schweigens
Die seit dem Dezember 1973 amtierende Franco-Nachfolgeregierung unter Carlos Arias Navarro, auch als »Bunker« bezeichnet, galt als reformunwillig, sie wollte einen »Franquismus ohne Franco« fortsetzen. Dass es dazu nicht kam, war maßgeblich dem Druck von unten geschuldet. Große Teile der Bevölkerung forderten immer wieder lautstark und unnachgiebig »Amnestia y Libertad« (Amnestie und Freiheit) ein. Navarro wurde schließlich am 1. Juli 1976 von König Juan Carlos zum Rücktritt gedrängt, und der »reformbereite« ehemalige Franquist Adolfo Suárez übernahm seine Position. Ab diesem Zeitpunkt wurde der Übergang von der Diktatur zur parlamentarischen Monarchie, die Transición, ein Elitenprozess. In Hinterzimmergesprächen verhandelten die verschiedenen politischen Kräfte – von ehemaligen franquistischen Ministern und dem König über die sozialdemokratische PSOE bis hin zur kommunistischen PCE – über die Modalitäten des Übergangs. Schließlich kam es im Juni 1977 mit den ersten freien Wahlen zur Transición, aus der die Mitte-rechts Formation UCD unter Adolfo Suárez als Sieger hervorging, zweitstärkste Kraft wurde die PSOE. Dabei waren war vor allem der König und Suárez, die als sogenannte »Aperturistas« (Anhänger einer politischen Öffnung) dem gesellschaftlichen Prozess ihren Stempel aufdrückten. Durch die damit einhergehende offizielle politische Selbstentmachtung der franquistischen Eliten wurde jedoch nicht deren soziale Stellung berührt. Es kam zu keinem klaren Bruch mit der Diktatur.
Im Kontext der Transición verständigten sich die unterschiedlichen Parteien darauf, die Vergangenheit ruhen zu lassen und den Blick nach vorne zu richten. Vor diesem Hintergrund wurde der Spanische Bürgerkrieg als eine »nationale Tragödie« und als »Bruderkrieg« interpretiert, deren bzw. dessen Wiederholung es zu vermeiden gelte. Diese auf Versöhnung fokussierte Politik verhinderte eine ernstzunehmende Aufarbeitung der Vergangenheit. Sie wird deshalb auch als Pakt des Schweigens bezeichnet. Als einzige grundlegende Maßnahme wurde 1977 eine Generalamnestie erlassen. Allerdings betraf diese Amnestie Opfer und Täter gleichermaßen. Die Konsequenz war, dass zwar die meisten politischen Gefangenen aus den Gefängnissen entlassen wurden, aber die franquistischen Kräfte bis auf sehr wenige Ausnahmen weiter in all ihren Ämtern verblieben – auch bei den Gerichten, dem Militär, der Guardia Civil und der Polizei. Exemplarisch dafür steht der ehemalige Tourismus- und Informationsminister Manuel Fraga Iribarne, der 1976 zusammen mit zwölf von 19 Kabinettsmitgliedern der letzten franquistischen Regierung die Alianza Popular (AP), den Vorläufer der heutigen Partido Popular (PP), gründete. Iribarne hatte noch im März 1976 einen Angriff auf ein Treffen streikender Arbeiterinnen und Arbeiter im baskischen Gasteiz (Vitoria) veranlasst, bei dem fünf Menschen von der Polizei erschossen und etwa hundert weitere verletzt wurden. Als PP-Politiker war er später von 1990 bis 2005 Regierungschef von Galicien.
Während sich die Franquisten in der »neuen« Gesellschaft leicht einrichten konnten, waren viele Menschen aus dem Widerstand enttäuscht über die mangelnden gesellschaftlichen Veränderungen sowie das Verhalten der PSOE und der PCE. Es trat eine Phase des Desencanto (Ernüchterung) ein. Spätestens nach dem gescheiterten Putsch vom 23. Februar 1981, als Teile der Guardia Civil und des Militärs versuchten, die Macht zu übernehmen, brach die breite Widerstandsbewegung zusammen. Ebenso verschwanden die gerade erst entstandenen lokalen Initiativen, die bemüht waren antifranquistische Erinnerungsorte zu schaffen.
Der fehlende Druck von unten und der »Pakt des Schweigens« verhinderten jahrzehntelang eine gesellschaftliche und juristische Auseinandersetzung über die Vergangenheit. Denn erst im November 2002 sollte es zu einer generellen Verurteilung des franquistischen Regimes durch das spanische Parlament kommen. Eine ernstzunehmende Anerkennung erfuhren die Opfer der Diktatur und deren Angehörige nicht. Zudem war die triumphalistische Erinnerungskultur des ehemaligen Regimes omnipräsent. Es gab kaum einen Ort, an dem nicht Straßennamen, Inschriften oder Denkmäler Franco und dessen Mitstreiter verherrlichten. Eine juristische, politische oder auch nur moralische Aufarbeitung blieb aus. Ebenso wenig gab es bis zum Erinnerungsgesetz von 2007 eine reale symbolische oder finanzielle Entschädigung für die Opfer. In der Zeit nach 1977 wurden zwar verschiedene Gesetze beschlossen, die in erster Linie eine Gleichstellung zwischen den Opfern der »beiden Seiten« herstellen sollten: das Gesetz zur Gleichstellung der republikanischen Kriegsversehrten (1978), das Gesetz zur Verbesserung der Hinterbliebenen von Kriegsopfern (1979), die Gesetze zur Entschädigung für Opfer politischer Repression und zu den Renten für republikanische Militärs (1984), das Entschädigungsgesetz für politische Häftlinge des Franquismus (1990) sowie die 1996 erfolgte Anerkennung der spanischen Staatsbürgerschaft für die Angehörigen der Internationalen Brigaden, die diesen 1938 von der Republik versprochen worden war. Aber alle diese Regelungen blieben für die Betroffenen und deren Angehörige insofern wirkungslos, als sie oftmals nicht über die notwendigen Dokumente verfügten, um das begangene Unrecht nachweisen zu können, und die entsprechenden Archive ihnen häufig verschlossen blieben. Zu keinem Zeitpunkt wurden die Amnestiegesetzgebung und die damit einhergehende Straflosigkeit in Frage gestellt.
Dass die ehemaligen Täter größtenteils in ihren Ämtern verblieben, führte hingegen zu einem Klima der Angst, das in Verbindung mit dem Dogma der Transición, »die Vergangenheit ruhen zu lassen«, und der Amnestiegesetzgebung den »Pakt des Schweigens« gesellschaftlich verankerte.
Erinnerungsboom
Erst zur Jahrtausendwende fanden wieder erinnerungspolitische Auseinandersetzung in Wissenschaft und Medien statt. Nun kam es zu einem regelrechten Erinnerungsboom in der spanischen Gesellschaft. Die Auseinandersetzung hatte bereits in den 1990er Jahren erste Vorläufer, eine gesamtgesellschaftliche Relevanz konnte sie aber erst danach entwickeln. Als treibende Kraft in dem Prozess muss das Movimiento Memorialista (Erinnerungsbewegung) angesehen werden. Es waren zunächst vor allem kleine lokale zivilgesellschaftliche Initiativen, die erstmals nach sechzig Jahren begannen, nach den Verschwundenen zu suchen: Menschen, die von franquistischen Kräften während und nach dem Bürgerkrieg ermordet und im ganzen Land in anonymen Massengräbern verscharrt worden waren. Bei vielen Angehörigen ging dadurch der lange verdrängte und unterdrückte Wunsch in Erfüllung, endlich Gewissheit über das Schicksal ihrer Verwandten zu bekommen und deren sterbliche Überreste würdig zu bestatten. Bald schon entwickelten sich diese Initiativen weiter: Neben der Suche nach den »Verschwundenen« begannen sie, Veranstaltungen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu organisieren, Orte der Erinnerung zu schaffen und eigenständig Recherchen über die lokale franquistische Repression anzustellen.
Erst durch die vielen kleinteiligen Nachforschungen ist heute mehr über die Formen und das Ausmaß der jahrzehntelangen systematischen Verfolgung des Widerstandes bekannt. Gerade in der Anfangsphase der Diktatur, die aufgrund der Farbe der franquistischen Hemden als »blauer Terror« bezeichnet wird, kam es zu grausamen Repressionsmaßnahmen. Die »Roten« wurden systematisch sozial und ökonomisch ausgegrenzt, Gebäude, Ländereien und sonstiger Besitz wurden enteignet, fast 500.000 Menschen mussten 1939 ins Exil gehen. Hunderttausende wurden nach 1939 in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert, von denen ca. 100.000 in solchen umkamen. Insgesamt mussten, die Schätzungen differieren, 200.000 bis 400.000 Menschen Zwangsarbeit leisten. Es kam zu 100.000 bis 150.000 Hinrichtungen, und ca. 114.000 Menschen »verschwanden«. Während der gesamten Diktatur wurden »roten« Eltern schätzungsweise 250.000 bis 300.000 Kindern weggenommen, die in franquistische Heime bzw. zur Adoption an regimetreue, oft kinderlose Ehepaare weitergegeben wurden.
Durch das Bekanntwerden des Ausmaßes der Repression und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Diskursen wuchsen die erinnerungspolitischen Initiativen und Vereine zu einer landesweiten sozialen Bewegung heran. Im Jahr 2004 wurde durch die Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica (Vereinigung zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses) 65 Jahre nach dem Spanischen Bürgerkrieg eine erste große Veranstaltung zu Ehren der Republikanerinnen und Republikaner in der Nähe von Madrid organisiert. Erstmals wurden dort exemplarisch 741 von ihnen für ihren Einsatz geehrt. An diesem Festakt nahmen 25.000 Menschen teil, was als Demonstration der eigenen Stärke angesehen wurde.
Unerfüllte Forderungen
Die Parteien konnten sich den Forderungen des Movimiento Memorialista nach »Würde, Wahrheit, Erinnerung und Gerechtigkeit« nicht länger verschließen. Während des Wahlkampfes 2004 versprach der PSOE-Vorsitzende José Luis Zapatero, eine erinnerungspolitische Gesetzesinitiative auf den Weg zu bringen. Nach ihrem Wahlsieg gründete die PSOE eine interministerielle Kommission, die einen entsprechenden Entwurf entwickeln sollte. Allerdings erwies sich dies als äußerst schwierig, denn die rechtskonservative PP, die mit José Maria Aznar von 1996 bis 2004 den Ministerpräsidenten gestellt hatte, und die katholische Amtskirche leisteten Widerstand. Zudem existiert bis heute eine Vielzahl von Medien, die der PP und der Kirche nahestehen. Ihr Vorwurf lautete, dass »alte Wunden« wieder aufreißen würden. Der erste, 2006 vorgelegte Gesetzesentwurf trug dieser politischen Konstellation Rechnung und fiel damit weit hinter die Erwartungen der Erinnerungsbewegung sowie der Linken zurück. Während die PP den Entwurf aus Prinzip ablehnte, fehlte der PSOE die Zustimmung weiterer Parteien, um das Gesetz verabschieden zu können. Vor dem Hintergrund der bevorstehenden Wahlen wuchs 2007 der Druck auf die PSOE. Nach verschiedenen Bearbeitungen des Entwurfes, bei denen vor allem das linke Parteienbündnis Izquierda Unida (Vereinigte Linke, IU), zu dem auch die PCE gehört, Veränderungen einbrachte, konnte schließlich eine Mehrheit gewonnen werden. Am 31. Dezember 2007 wurde das umgangssprachlich als Ley de Memoria Histórica (LMH) bezeichnete Gesetz verabschiedet.
Sein vollständiger Titel lautet: »Gesetz, wodurch Rechte anerkannt und erweitert und Mittel für jene geschaffen werden, die während des Bürgerkrieges und der Diktatur Verfolgung oder Gewalt erlitten«. Hier wird schon deutlich, worum es geht: um eine individuelle und nicht um eine kollektive Wiedergutmachung für die Opfer und ihre Angehörigen. Von den Täterinnen und Tätern ist an keiner Stelle die Rede.
Trotz der Zugeständnisse an die IU fiel das Gesetz hinter die Forderungen des Movimiento Memorialista zurück. Eine zentrale Forderung der Bewegung war gewesen, dass die politischen Urteile der Diktatur annulliert werden. Im Gesetz werden sie lediglich als »illegitim« bezeichnet, was zur Folge hat, dass jedes Repressionsopfer bzw. dessen Angehörige jeweils im Einzelfall juristisch vorgehen müssen. Kritik kam auch von Amnesty International (AI). Die Menschenrechtsorganisation forderte die spanische Regierung auf, sich gemäß der von ihr unterzeichneten internationalen Abkommen, um die Suche nach den »Verschwundenen« zu bemühen, denn im LMH war lediglich festgeschrieben worden, dass der Staat die Suche nach den Verschwundenen (finanziell) unterstützen solle. Damit blieb dies nach wie vor Aufgabe der Angehörigen und der erinnerungspolitischen Organisationen. Auch eine von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anfang 2007 geforderte internationale Untersuchungskommission war nicht Teil des Gesetzestextes. AI sprach in seiner Kritik des LMH daher von einem »Schlussstrich-Gesetz«, denn nach wie vor werde eine juristische Aufarbeitung umgangen. Wenngleich sich andere wichtige Punkte wie die Entfernung franquistischer Symbole aus dem öffentlichen Raum, die Öffnung von Archiven und der Anspruch auf Entschädigung im Gesetz finden, zeigen die letzten Jahre, dass es dennoch massiven Drucks von unten bedurfte und bedarf, damit diese Vorgaben auch umgesetzt werden.
Vor dem Hintergrund des schwierigen Entstehungsprozesses des LMH hatten bereits 2006 verschiedene Vereine eine Klage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim höchsten spanischen Gericht eingereicht. Diese scheiterte jedoch schon kurz nach der Verfahrenseröffnung – und gegen den ermittelnden Untersuchungsrichter Baltasar Garzón wurde ein Suspendierungsverfahren eingeleitet. Der Vorwurf lautete, Garzón habe mit seinen Untersuchungen das Amnestiegesetz verletzt. Kurz vor der Eröffnung des Verfahrens am 23. April 2010 gingen allein in Madrid 100.000 Menschen auf die Straße. Ihre zentrale Forderung war die Aufhebung der Straflosigkeit. Diese Demonstration stellte den vorläufigen Höhepunkt der Mobilisierung der Bewegung dar.
Wenngleich der Richter Garzón in diesem Fall nicht verurteilt wurde, war doch deutlich geworden, dass es innerhalb des spanischen Staates nicht möglich sein würde, gegen die franquistischen Täterinnen und Täter juristisch vorzugehen. Einige Vereine und Angehörige von Opfern wandten sich nach dem gescheiterten Versuch der Klage daher an die argentinische Justiz. Sie stellten mit Verweis auf die universelle Gerichtsbarkeit für Menschenrechtsverbrechen einen Antrag, dort ein Strafverfahren zu eröffnen. Dieses universelle Recht greift dann, wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit in dem Land, in dem sie begangen wurden, nicht verfolgt werden. 2013 erließ die zuständige argentinische Richterin María Romilda Servini de Cubría internationale Haftbefehle gegen vier ehemalige Polizisten und forderte deren Auslieferung. Ihnen wird vorgeworfen, gefoltert zu haben. Allerdings weigert sich der spanische Staat bis heute, die Personen auszuliefern. Unterdessen wächst die Zahl der Klägerinnen und Kläger, mehr als 250 Klageschriften von Betroffenen und deren Angehörigen haben die Anwälte der Opferseite bisher gesammelt. Die Anwältin Ana Messuti hofft, dass die »Megaklage« wegen Verschwindenlassens, Folter, Kindesentzugs und Zwangsarbeit auch ein »Megaresultat« bringt.
Krise der Bewegung
Während die Ermittlungen in Argentinien bereits anliefen, erfuhr das Movimiento Memorialista durch die Wirtschaftskrise und ihre Folgen eine Zäsur: Einige der Aktivistinnen und Aktivisten waren persönlich davon betroffen bzw. verlagerten ihr politisches Engagement aufgrund der drängenden Probleme in die Antikrisenproteste wie etwa das »Movimiento 15-M«. Nachdem 2011 die PP die Wahlen gewonnen hatte, hob diese alle im Erinnerungsgesetz beschlossen Subventionen wieder auf. Trotz der Rückschläge setzten die meisten Vereine ihre Arbeit, wenngleich mit eingeschränkten Möglichkeiten, fort. Da sich zu dieser Zeit die Berichte über die während der Diktatur geraubten Kinder häuften, entstanden in der Folge spanienweit auch zahlreiche neue Vereine, die sich ausschließlich dieser Thematik widmeten. Sie gaben dem Movimiento Memorialista eine neue Dynamik.
In diesem Jahr ist erneut Bewegung in den erinnerungspolitischen Prozess gekommen. Erstmals stimmte im Mai der spanische Kongress ohne Gegenstimmen der Entfernung der sterblichen Überreste Francos aus dem gigantischen Mausoleum »Valle de los Caídos« bei Madrid zu. In Katalonien – wo die Autonomieregierung seit den 2000er Jahren einen eigenständige Erinnerungspolitk vorantreibt und eine Vorreiterrolle einnimmt – wurde Ende Juni ein Gesetz verabschiedet, das für Katalonien eine Annullierung aller franquistischen Urteile aufgrund von politischen Vergehen festlegt und die Militärgerichte von 1938 bis 1978 für illegal erklärt. Einen Monat später brachte die PSOE einen nicht bindenden ähnlichen Vorschlag ins spanische Parlament ein, der die Unrechtmäßigkeit und Ungerechtigkeit aller Gerichte der franquistischen Repression sowie die Annullierung der Strafen und Sanktionen gegen die Opposition vorsieht. Zeitgleich kam es zur ersten Exhumierung und Identifizierung eines »Verschwundenen«, welche auf Anordnung der argentinischen Richterin Servini stattfand. Im September mahnte die Arbeitsgemeinschaft für erzwungenes Verschwinden der Vereinten Nationen in ihrem Jahresbericht die spanische Regierung, dass die 2013 von ihnen gegebenen Empfehlungen bis heute nicht umgesetzt worden seien.
Trotz dieser positiven Entwicklungen darf nicht vergessen werden, dass letztlich das Amnestiegesetz bis heute die Möglichkeit einer umfassenden Vergangenheitsbearbeitung und damit die Herstellung von Gerechtigkeit auch vierzig Jahre nach der Diktatur verhindert. Es sind nach wie vor die regierende PP und die katholische Kirche, die sich einer Aufarbeitung der Vergangenheit entgegenstellen.
Quelle: junge Welt, Aus: Ausgabe vom 28.10.2017, Seite 12 / Thema