junge Welt, Aus: Ausgabe vom 27.12.2016, Seite 12 / Thema
Eine große, schöne, herrliche Seele
Alle Kräfte aufgeboten. Die Fotografin und Revolutionärin Tina Modotti im Spanischen Krieg 1936–1939 (Teil 2 und Schluss)
Von Christiane Barckhausen-Canale
In Mexiko hatte Tina Modotti noch fotografiert, in Spanien nicht. Sombrero mit Hammer und Sichel, 1928
Foto: picture-alliance / akg-images
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Christiane Barckhausen-Canale ist Schriftstellerin und Übersetzerin. 1988 erschien von ihr die Biographie »Auf den Spuren von Tina Modotti«. Ein Jahr später folgte der Band »Tina Modotti. Wahrheit und Legende einer umstrittenen Frau« und 2012 veröffentlichte der Verlag Wiljo Heinen die 1996 verfasste, für die Neuausgabe überarbeitete und aktualisierte biographische Skizze »Tina Modotti. Den Mond in drei Teile teilen«.
Am Wochenende erschien auf diesen Seiten der erste Teil der Geschichte, die von Tina Modottis unermüdlicher und aufopferungsvoller Arbeit im Socorro Rojo, der nationalen Sektion der Internationalen Roten Hilfe (IRH), während des Spanischen Krieges erzählt. Im folgenden veröffentlichen wir den zweiten und zugleich letzten Teil. (jW)Ja, wenn die Stummen sprechen, ja, wenn die Blinden sehen, ja, wenn die Letzten die Ersten sind, ja, wenn unsere Toten auferstehen, wird Tinas kleiner schweigsamer und treuer Schatten begeistert von ihrem Volk begrüßt werden.
Anna Seghers, Mexiko, Februar 1942
Worin die Tätigkeit bestand, die Tina Modotti beim Socorro Rojo leistete, lässt sich aus Dutzenden von Dokumenten schließen, die im Nationalen Historischen Archiv in Salamanca lagern. Nie habe ich während meiner Recherchen zu Tinas Leben ein chaotischeres Archiv zu sehen bekommen. Offensichtlich hatten die Franco-Truppen nach ihrem Sieg in den verschiedenen Büros der republikanischen Organisationen einfach alle Papiere in Säcken verstaut und deren Inhalt dann im Archiv entleert, ohne jede genauere Zuordnung. Unterlagen des Socorro Rojo musste ich aus einer Fülle von Dokumenten der Gewerkschaften, der Parteien und der Stadtverwaltungen herausfischen, aber nach zwei Wochen fieberhafter Suche fand ich doch einige Belege für Tinas Arbeit, meist Briefe oder Telegramme, die sie verfasst oder empfangen und abgezeichnet hatte.
Da war die Bitte des Socorro-Rojo-Gebietskomitees von Almería, zu prüfen, wie ein gewisser Antonio González seiner im von Franco besetzten Territorium lebenden Frau 200 Peseten zukommen lassen konnte. »Maria« schrieb an das Ortskomitee von Murcia und bat um genaue Angaben über die Solidaritätssendungen, die im dortigen Hafen eintrafen. Aus einem anderen Dokument wurde ersichtlich, wann sich Tina und ihr Lebensgefährte Vittorio Vidali trafen, nachdem die Leitung des Socorro Rojo nach Valencia verlegt worden war. Auf einer anderen Liste fand ich den Nachweis, dass »Carmen Ruiz« 100 Peseten für den Socorro Rojo in Barcelona gespendet hatte. Eine besondere Aufgabe war für Tina im Jahre 1937 die Organisation der Evakuierung Hunderter Kinder, die aus den umkämpften Städten gerettet und in die Sowjetunion oder nach Mexiko geschickt wurden.
Es gibt allerdings auch Hinweise drauf, dass sich ihr Gesundheitszustand verschlechterte. Aus einem Dokument zum Beispiel geht hervor, dass sich Maria einige Tage Ruhe gönnen musste, weil ihre Beine angeschwollen waren und ihre allgemeine Verfassung Anlass zur Besorgnis gab.
Unglaubliche Sicherheit
Neben der Korrespondenz mit den verschiedenen Gebiets- und Ortskomitees des Socorro Rojo musste sich Tina weiterhin um die Zeitschrift Ayuda kümmern. Und das hieß für sie nicht nur redaktionelle Arbeit und das Verfassen von Artikeln, sondern auch das Bündeln der Exemplare, die am nächsten Tag ausgeliefert werden mussten. Bei dieser Tätigkeit begegnete sie dem Kubaner Manuel Fernandez Colino, mit dem ich 1986 sprechen konnte. Manuel hatte Anfang der dreißiger Jahre seine Heimat verlassen und in Spanien, im Land seiner Eltern, Zuflucht suchen müssen. An so manchem Abend half er Tina Modotti in der Redaktion.
»Ich hatte keine Ahnung davon, wer sie wirklich war. Hätten wir mehr Ruhe gehabt, uns über dieses und jenes Gedanken zu machen – vielleicht hätte es mich stutzig gemacht, dass sie mir mit einer ganz besonderen Herzlichkeit begegnete, als sie erfuhr, dass ich aus Kuba kam und Mella gekannt hatte …« Es muss Tina schwergefallen sein, auch vor Manuel ihre wahre Identität zu verbergen. Sicher hätte sie ihn nur allzugern gefragt, welche Erinnerungen er an ihren 1929 in Mexiko ermordeten Lebensgefährten, den kubanischen Kommunisten Julio Antonio Mella, hatte.
»Von Genossen, die in Moskau arbeiteten, hatten wir Exilkubaner gehört, dass es dort im Exekutivkomitee der IRH eine gewisse Tina Modotti gab, dass sie in Mexiko Mellas Lebensgefährtin gewesen war und dass sein Foto, das jedes Jahr an seinem Todestag bei unseren kleinen Feierstunden den Versammlungsraum schmückte, von ihr stammte. Ihr Name hätte mir also durchaus etwas gesagt, aber sie verriet mit keinem Wort ihre wahre Identität. Und so war sie für mich wie für alle anderen einfach Maria. Ich weiß nicht, wie viele Frauen in Spanien diesen Namen tragen. Vielleicht Millionen. Und doch, wer damals von Maria sprach und keinen Familiennamen hinzufügte, konnte keine andere meinen als Maria vom Socorro Rojo.«
»Wenn sie sprach« sagte Manuel, »dann war es, als zitiere sie eine Bibel, als gebe sie dir eine theoretische Lektion. In ihren Worten lag einfach eine unglaubliche Sicherheit.« Beim Anblick eines Fotos von Tina in ihren letzten Lebensjahren in Mexiko schüttelte Manuel den Kopf. »Sie ist es, ganz ohne Zweifel. Aber irgend etwas war anders auf diesem Bild. Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. (…) Wie gesagt, Maria gab sich sehr natürlich, und gerade das kann man hier nicht erkennen. Selbst der tragische Zug in ihrem Gesicht wirkte ganz natürlich. Er war Teil ihres Wesens, er beeindruckte jeden und machte es den Menschen schwer, sich ihrem Eindruck zu entziehen. Vielleicht wusste sie das, vielleicht tat sie deshalb alles, um im Hintergrund zu bleiben (…)«
Manuel sollte »Maria« im Jahre 1939 noch einmal wiedersehen, und zwar in New York, wo sie sich mit einem falschen Pass für einige Wochen aufhielt. Gemeinsam übersetzten Manuel und Tina damals das Buch ihrer gemeinsamen Freundin Constancia de la Mora, »Doble esplendor«, »Doppelter Glanz«, ins Englische.
Die Evakuierung von Málaga
Ihre größte Bewährungsprobe hatte Tina zu bestehen, als die andalusische Stadt Málaga nach einem Monat erbitterten Widerstands von der Einnahme durch spanische, italienische und deutsche Truppen bedroht war. Die Evakuierung der Stadt musste am 6. Februar 1937 innerhalb weniger Stunden vonstatten gehen. Zehntausende Menschen strebten dem einzigen Punkt entgegen, der Rettung versprach: der Landstraße nach Almería.
Gemeinsam mit dem kanadischen Arzt Norman Bethune, mit dem sie bereits zuvor bei der Organisation von Bluttransfusionen an vorderster Front zusammengearbeitet hatte, versuchte Tina, etwas Ordnung in diesen Exodus zu bringen, der, wie der Gouverneur von Almería sagte, »nicht einmal in der Bibel seinesgleichen fand«.
Bethune veröffentlichte später einen Augenzeugenbericht über das, was er und Tina auf der Landstraße zwischen Málaga und Almería erlebt hatten: »Stellen Sie sich vor, vier Tage und vier Nächte, da man nachts marschierte und sich tagsüber hinter den Hügeln versteckte, um der Verfolgung durch die faschistischen Flugzeuge zu entkommen. Wie konnten wir entscheiden, ob wir eher ein sterbendes Kind mitnehmen sollten oder eine Mutter, die uns schweigend mit großen Augen ansah und einen nackten Säugling an die Brust gepresst hielt, den sie vor zwei Tagen auf der Landstraße zur Welt gebracht hatte? (…) Viele alte Menschen gaben einfach auf, legten sich an den Straßenrand und warteten auf den Tod. In den folgenden drei Tagen und Nächten transportierten wir jeweils 30 bis 40 Menschen nach Almería, ins Krankenhaus der Internationalen Roten Hilfe. (…) Und dann der letzte barbarische Akt: Am Abend des 12. Februar (…) als 40.000 erschöpfte Menschen glaubten, einen sicheren Unterschlupf gefunden zu haben, wurden wir von deutschen und italienischen Flugzeugen bombardiert. (…) Sie warfen zehn große Bomben über dem Stadtzentrum ab, wo in der Hauptstraße die Flüchtlinge auf dem nackten Boden schliefen. Als die Flugzeuge verschwunden waren, nahm ich drei tote Kinder in den Arm. Sie wurden vor dem Provinzkomitee für Flüchtlingshilfe getroffen, wo sie, zusammen mit vielen anderen, auf eine Tasse Kondensmilch und ein Stück trocken Brot gewartet hatten. (…)«
In Almería kümmerte sich Tina vor allem um die Kinder, die bei der Flucht von ihren Eltern getrennt worden waren. Doch was konnte sie ihnen bieten außer einer Tasse Milch und einem Stück Brot? Ende Februar erschien in Ayuda ein nicht signierter Artikel, von dem ich aber überzeugt bin, dass er von Tina stammte, denn nur jemand, der dieses Inferno persönlich erlebt hatte, konnte es in Worte fassen: »Wie soll man nicht den Fall des Mädchens erwähnen, das, in absolutes Stillschweigen gehüllt, lautlos, aber unaufhörlich, weinte, vor allem und jedem floh und sich weigerte, etwas zu essen und zu trinken? Es war Opfer eines Anfalls von Melancholie, der es Stunden später in ein Irrenhaus führen sollte. (…) Alle diese Kleinen riefen nach ihren Müttern, doch die gaben keine Antwort. (…) Keines dieser Kinder war so anbetungswürdig wie die kleine, kaum elfjährige Valeria Garcia Vara aus Vélez-Málaga. Mitten auf der Landstraße hatte sie die Eltern verloren und sich der drei kleineren Geschwister angenommen. Unter ihnen war ein Säugling, den sie, wie eine kleine Mutter, umklammert hielt, als sei er ein kostbarer Schatz, so lange, bis die Rote Hilfe sie aus dem Straßengraben holte, in dem sie möglicherweise ebenfalls von einer Kugel getroffen worden wäre. (…)«
Abgekämpft und müde. Im Frühjahr 1939 verließ Tina Modotti Spanien und gelangte über Umwege und unter Tarnnamen nach Mexiko, dem Land, aus dem sie 1930 als »gefährliche Ausländerin und Kommunistin« ausgewiesen worden war (Einreisedokument der mexikanischen Behörden)
Foto: dpa Picture Alliance/ Eduardo Verdugo
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Tiefes Verständnis
Derartige Bilder und Szenen des Grauens konnte Tina nicht vergessen, auch nicht, wenn es erfreulichere Unterbrechungen ihrer alltäglichen Arbeit gab, wie zum Beispiel den Zweiten Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur, der im Sommer 1937 in Valencia und Madrid stattfand und bei dem Tina den Socorro Rojo vertrat. Hier lernte sie viele Intellektuelle und Künstler kennen, die ihre antifaschistische Überzeugung direkt in dem Land ausdrücken wollten, das von spanischen, deutschen und italienischen Faschisten angegriffen worden war. Sie sah auch ihre Freundin Anna Seghers wieder, der sie bereits früher, als sie im westeuropäischen Büro der IRH in Paris gearbeitet hatte, begegnet war. Und sie traf Gerda Taro und Robert Capa, die offensichtlich irgendwie erfuhren, wer »Maria« wirklich war, und die sie, genau wie der sowjetische Kameramann Roman Karmen, überreden wollten, wieder zu fotografieren.
Viele der Menschen, die Tina in den Jahren des spanischen Bürgerkriegs begegnet waren, verfassten 1942, nach ihrem Tod, Beiträge für eine kleine Gedenkbroschüre, die in Mexiko herausgegeben wurde. So schrieb die argentinische Schriftstellerin María Luisa Carnelli: »Ich liebte sie mit tiefer Zuneigung. Das wunderbare Bild ihrer Seele hat mich immer entzückt. Eine große, schöne, herrliche Seele. Ich habe niemals eine Frau kennengelernt, die einen feineren Charakter hatte. Ihre stets wache Sensibilität, ihr tiefes Verständnis, ihre klaren Überlegungen machten aus ihr ein außergewöhnliches Wesen. Gepeinigt von allen nur denkbaren Qualen, blieb sie stets fest und ungebrochen.«
Zu dem »fremden« Leid, das sie mitansehen musste, kam auch der Verlust guter Freunde. Federico García Lorca wurde gleich nach dem Aufstand der Faschisten in Granada erschossen. Nur kurze Zeit später erfuhr sie vom Tode ihres Freundes Hans Beimler, dem sie begegnet war, bevor er als Kommissar des Thälmann-Bataillons nach Spanien kam. Im Juli 1937 kam Gerda Taro auf dem Schlachtfeld ums Leben, und im November 1938 hätte sie beinahe auch ihren Lebensgefährten Vidali verloren.
Delegierte aus ganz Spanien hatten sich im November jenes Jahres in Madrid zu einem Kongress versammelt. Am letzten Sitzungstag griffen die Faschisten an, zu Lande und aus der Luft. In dieser Nacht gab es in Madrid 1.500 Tote und mehr als 5.000 Verwundete. Unter den Toten waren auch fünf ausländische Gäste des Kongresses, unter ihnen die Französin Agnes Dumay, die Vorsitzende des Weltfrauenkomitees gegen Krieg und Faschismus. Vidali und sein Landsmann Melchiorre Vanni, der in Paris das Internationale Koordinierungskomitee für die Spanienhilfe leitete, wurden schwer verwundet.
Tina hatte sich zur Zeit des Angriffs nicht in dem Gebäude befunden. Vidali berichtet in seinen Memoiren, wie sie die ganze Nacht durch das brennende Madrid irrte und nach ihm und anderen vermissten Freunden suchte, wie sie von Krankenhaus zu Krankenhaus lief und überall da, wo Hilfe dringend nötig war, mit anpackte. Als er am nächsten Morgen aufwachte, saß sie an seinem Bett, den Kopf auf seine Beine gelegt, erschöpft von der nächtlichen Suche. Es dauerte lange, bis man sie wachrütteln konnte.
Zu Tinas engsten Freunden in Spanien gehörte der große Dichter Antonio Machado, der sie »Engel meines Hauses« nannte. Oft bat sie ihn um Beiträge für Ayuda, und er kam ihrer Bitte stets nach.
Im Januar 1939 standen die Faschisten vor den Toren Barcelonas, wo Tina seit mehreren Monaten gearbeitet hatte. Jetzt wurde sie vom Socorro Rojo mit anderen Aufgaben betraut. Sie musste den Präsidenten der Organisation und ihren Landsmann Melchiorre Vanni nach Paris bringen. Noch am selben Abend fuhr sie zurück nach Spanien, denn auch ihr Freund Antonio Machado, der schwer erkrankt war, musste in Sicherheit gebracht werden. Allerdings fand sie seine Wohnung leer vor, weil sich bereits andere seiner angenommen hatten.
Flucht aus Katalonien
Das Ende des Krieges, das Ende der Republik, war abzusehen, und nun sollte auch Tina das Land verlassen. Der letzte Dienst, den »Maria vom Socorro Rojo« den spanischen Menschen leisten konnte, war, dass sie darauf verzichtete, mit dem Zug oder mit einem Auto in Richtung Grenze zu fahren. Vielmehr schloss sie sich der »Kolonne der Angst« an und begleitete eine halbe Million Flüchtlinge – entkräftete und verwundete Kämpfer, verzweifelte Mütter, abgemagerte Kinder – beim Marsch entlang der Straße, die zwischen Mittelmeer und Pyrenäen verlief.
In Moskau lernte ich die Katalanin Teresa Palau kennen, die Tina oft bei Versammlungen in Barcelona getroffen und diese dramatische Flucht nach Frankreich miterlebt hatte: »Überall herrschte absolute Stille, und um drei Uhr nachmittags, am 26. Januar, tauchten die Junkers am Himmel auf. Abertausende verließen die Stadt und marschierten, über Gerona, nach Figueras. Aber die Flugzeuge holten uns ein. (…) Es war unbeschreiblich. Die Landstraße war übersät mit all den Habseligkeiten, die die Flüchtlinge zunächst mitgeschleppt, dann jedoch in panischer Angst um das nackte Leben, weggeworfen hatten. Einer unserer Genossen wurde von einem Bombensplitter getroffen und war auf der Stelle tot. Wir konnten ihn nicht begraben, weil das Bombardement unaufhörlich weiterging. Wir mussten ihn einfach liegenlassen. (…)«
Tina und Vidali blieben nach der Flucht aus Katalonien noch mehrere Wochen in Paris und versuchten, Hilfe für Hunderttausende von Spaniern und Interbrigadisten zu organisieren, die in Südfrankreich in Lager gesperrt worden waren. Gern wäre Tina nach Collioure gefahren, um Antonio Machado zu besuchen, aber noch ehe sie die Reise antreten konnte, verstarb der Dichter dort am 22. Februar 1939. So bestand sie darauf, Vidali nicht in die USA – das neue, beiden von der IRH vorgeschriebene Reiseziel – zu begleiten, sondern in Paris zu bleiben, um Melchiorre Vanni zu betreuen, dessen Tod bereits abzusehen war. Erst am 1. April trat sie auf der »Queen Mary« die Fahrt nach Amerika an. Ihr Pass war am 21. Januar in Barcelona erneuert worden und lautete auf den Namen Carmen Ruiz Sanchez. Er war gültig für die ganze Welt, mit Ausnahme von Italien, Portugal, Deutschland, Österreich und Ungarn.
Trotz dieses echten Passes der spanischen Republik durfte sie in New York, im Gegensatz zu Vidali, nicht an Land gehen. Möglicherweise war sie von irgend jemandem denunziert worden. Ihr blieb nichts anderes übrig, als nach Mexiko weiterzureisen, in das Land, aus dem sie 1930 als »gefährliche Ausländerin und Kommunistin« ausgewiesen worden war. Kein Wunder also, dass sie sich von all ihren ehemaligen Bekannten fernhielt und die Wohnung eines befreundeten Ehepaars, in der sie untergekommen war, kaum verließ. Mittlerweile war auch Vidali in Mexiko eingetroffen und gründete eine Organisation ehemaliger Spanienkämpfer. Aber wenn Tina alte Freundschaften nicht erneuerte, lag es nicht immer nur an ihrer Angst vor Entdeckung durch die mexikanischen Behörden. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, noch einmal eine solche Szene zu erleben wie mit ihrer alten Freundin Frances Toor, der sie einmal zufällig begegnet war. Frances hatte Kritik an Tinas Engagement für die spanische Republik geübt, und Tina war aus der Haut gefahren: »Wenn es ein mutiges und ehrenhaftes Volk gibt, dann ist es das spanische Volk, und du hast überhaupt kein Recht, das anzuzweifeln!«
Gelebte Solidarität
Die wenigen alten Freunde, mit denen sie verkehrte, berichteten mir übereinstimmend, dass Tina in den neun Jahren seit ihrer erzwungenen Abreise aus Mexiko erschreckend gealtert war. Manche von ihnen erkannten sie nicht einmal wieder. Sie sah mit ihren 43 Jahren aus wie eine alte Frau, wirkte nicht gesund, verfiel oft unverhofft in tiefes Schweigen und schien mit ihren Gedanken weit, weit entfernt von Mexiko zu sein. Engere Freundschaft verband sie nur mit Anna Seghers und der Mutter von Luís Carlos Prestes, Leocadia, die für ihre kleine Enkelin Anita sorgte, nachdem Olga Benario in der Tötungsanstalt Bernburg umgebracht worden war. Überhaupt fühlte sich Tina am wohlsten, wenn sie mit Kindern zusammen sein konnte, und so versuchte sie gelegentlich, deren Leben im Waisenhaus angenehmer zu gestalten.
Für den 6. Januar 1942 hatte sie eine Feier für die kleinen Spanierinnen und Spanier geplant. Am »Tag der Heiligen Drei Könige« wollte sie mit Geschenken im Waisenhaus auftauchen und hatte dafür bis zum Abend des 5. Januar die Vorbereitungen getroffen. Obwohl sie äußerst erschöpft war, begleitete sie Vidali zu einem Essen im Hause ihres gemeinsamen Freundes Hannes Meyer, des ehemaligen Bauhaus-Direktors. Es wurde spät, und da Vidali noch in die Redaktion der Zeitung fahren musste, für die er schrieb, blieb Tina noch ein wenig länger. Schließlich bat sie, man möge ihr ein Taxi bestellen, da sie sich nicht gut fühle. In diesem Taxi starb sie an Herzversagen, allein und lautlos.
Oftmals bin ich Bewunderern ihrer Fotografien begegnet, die es weder verstehen noch nachvollziehen konnten, dass sie in Spanien nicht fotografiert hat. Sicher wäre es für uns und für die kommenden Generationen eine Bereicherung, wenn wir neben den Fotos von Gerda Taro und Robert Capa auch Fotos von Tina Modotti hätten. Schließlich sind es heute, da es kaum noch Menschen gibt, die aus eigenem Erleben vom spanischen Bürgerkrieg berichten können, leblose Dinge wie Bücher oder Fotografien, die etwas davon vermitteln können, was damals in Spanien geschah. Aber ich selbst wage es nicht, Tinas Entscheidung gegen die Fotografie und für die gelebte Solidarität anzuzweifeln oder zu hinterfragen. Es gibt immer wieder Momente, da ein Künstler gezwungen ist, sich für oder gegen seine Kunst zu entscheiden. Ich denke, dass Tina diese Entscheidung nicht allzu schwergefallen ist, denn ihr ganzes Leben hat sie darauf vorbereitet. Irgendwann, wenn die Fotografien aus dem spanischen Bürgerkrieg noch immer in Ausstellungen hängen oder in Zeitungen abgedruckt sind, wird es niemanden mehr geben, der weiß, dass es in diesem Krieg eine aufopferungsvolle Frau gab, die man Maria nannte und die für den Socorro Rojo tätig war. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass Tina sich niemals derartige Gedanken gemacht hätte.