Der letzte Schützengraben
Grenzenlose Solidarität: Die Fotografin und Revolutionärin Tina Modotti im Spanischen Krieg 1936–1939 (Teil 1)
Von Christiane Barckhausen-Canale
»Ich werde nie ihre starke Persönlichkeit, ihren Sanftmut und ihren Verstand vergessen können, ihre Identifikation mit der Sache« (Fanny Edelmann): Tina Modotti, geboren am 16. August 1896 in Udine, gestorben am 6. Januar 1942 in Mexiko-Stadt
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Man hat mich gebeten, über eine Fotografin im Spanischen Bürgerkrieg zu schreiben, und das will ich versuchen, auch wenn in diesem Text kaum von Fotografien die Rede sein wird. Ich werde bei der Schilderung der Tätigkeit von Tina Modotti immer wieder auf meine 1988 veröffentlichte Biographie »Auf den Spuren von Tina Modotti« zurückgreifen, denn die Fakten sind dieselben geblieben und die Aussagen der Personen, die Tina in Spanien gekannt haben, kann ich nicht verändern. Man weiß im Grunde, was die 1896 geborene Italienerin auf der Iberischen Halbinsel erlebt und getan hat – offen ist nur noch die Frage, ob sie dort überhaupt jemals fotografiert hat. In den letzten Jahren wurde man wieder auf ein Buch aufmerksam, das die spanische Rote Hilfe während des Bürgerkrieges herausgegeben hatte. Es waren Gedichte von Miguel Hernández (1910–1942), das Buch hieß »Vientos del pueblo«, und es enthielt einige Aufnahmen. Eine von ihnen erinnerte sowohl vom Sujet als auch von der Komposition her an ein Foto, das Tina Modotti in den zwanziger Jahren in Chapultepec, in Mexiko, aufgenommen hatte: Es waren kreisförmig angeordnete Füße, bekleidet mit ärmlichen Sandalen. Könnte es sein, dass sie sich irgendwann einmal dazu hinreißen ließ, mit einer geliehenen Kamera auf die Lebensbedingungen der spanischen Campesinos zu verweisen, wie sie zuvor jene der mexikanischen Indios in Erinnerung gerufen hatte? Das Foto in dem Buch »Vientos del pueblo« weist keinen Urhebernamen aus, und auch das könnte auf Tina Modotti hindeuten. Robert Capa hat seine Fotos aus Spanien immer mit Namen versehen, genau wie Gerda Taro, die erst seit etwa 30 Jahren als Fotografin des spanischen Bürgerkrieges geehrt wird und deren Fotos im Sommer 2016 in Leipzig von Ewiggestrigen geschändet wurden. Es bleibt dabei, die Frage, ob Tina Modotti jemals in Spanien fotografiert hat, ist bis heute unklar.
Unermüdlich im Hintergrund
Als sich die gebürtige Italienerin, die 1930 aus ihrer Wahlheimat Mexiko ausgewiesen worden war und sich nach kürzerem Aufenthalt in Berlin in die Sowjetunion begeben hatte, Ende Dezember 1935 von Moskau aus auf den Weg nach Spanien machte, hatte sie keine Kamera im Gepäck. Sie hatte sie einem jungen Italiener, der an der Moskauer Filmhochschule studierte, »bis auf weiteres« überlassen. Nach ihrer Berliner Zeit von April bis November 1930 hatte sie keine Fotos mehr gemacht, und die Aufgabe, die sie in Madrid erwartete, hatte nichts mit ihrem Beruf zu tun. Sie hatte im Dezember 1930 begonnen, im Exekutivkomitee der Internationalen Roten Hilfe (IRH) zu arbeiten und war zur Referentin für lateinamerikanische Länder ernannt worden. Jetzt sollte sie, zusammen mit ihrem Landsmann und Lebensgefährten, dem italienischen Kommunisten Vittorio Vidali, in Madrid dem Socorro Rojo, der spanischen Sektion der IRH, zur Hand gehen. Nach der Niederschlagung eines Bergarbeiterstreiks in Asturien im Herbst 1934 waren etwa 30.000 Bergarbeiter ins Gefängnis geworfen worden, und der Socorro Rojo musste sich um deren Verteidigung sowie um die materielle Unterstützung für deren Familien kümmern – eine allzu große Aufgabe für eine bislang nur schwach entwickelte Organisation.
In Madrid stürzten sich Tina Modotti und Vittorio Vidali sofort in die Arbeit, denn neben der Hilfe für die asturischen Bergarbeiter hatte die spanische Sektion der IRH auch eine Solidaritätskampagne für Ernst Thälmann ins Leben rufen. Dazu kamen ab März 1936 Unterstützungsaktionen für den brasilianischen Kommunisten Luis Carlos Prestes und dessen Lebensgefährtin, die deutsche Revolutionärin Olga Benario, und Tina Modotti reiste mit Prestes’ Mutter Leocadia durch Spanien, um den Protest gegen die bevorstehende Auslieferung der schwangeren Olga Benario an Hitlerdeutschland zu organisieren.
Die Tätigkeit der Hilfsorganisation wurde ab Februar 1936 durch den Wahlsieg der Volksfront erleichtert. Tina übernahm nun auch die Leitung der Redaktion der Zeitschrift Ayuda, für die sie auch ab und zu unter falschem Namen Artikel schrieb. Ihre Identität war selbst im Socorro Rojo nur äußerst wenigen Personen bekannt. Der Präsident der Organisation, Isidoro Acevedo, hatte ihr den Namen »Maria« gegeben, und wenn sie ab und zu im Ausland – meist in Paris – den Socorro Rojo vertrat, hieß sie laut ihrem spanischen Pass »Carmen Ruiz«.
Einer, der »Maria« in jenen Jahren begegnete, war Santiago Alvarez, ehemaliger Kriegskommissar des 5. Korps der Spanischen Volksarmee, mit dem ich im Jahre 1985 in Madrid sprechen konnte. »Als ich sie kennenlernte«, sagte er mir, »wusste ich nichts von ihrer Vorgeschichte, weil sie nicht darüber sprach. Sie war eine dieser Frauen, die wir ›weltliche Nonnen‹ nannten. Es gab eine Spanierin, die ihr darin ähnlich war und die später, unter Franco, im Gefängnis umkam: Matilde Landa. Beide waren bescheiden und sehr fleißig und gingen völlig in ihrer Arbeit auf, ohne jemals viel von sich herzumachen. Sie kümmerten sich um andere mehr als um sich selbst und fanden gerade darin ihre größte Befriedigung. (…) Maria ging meist dunkel gekleidet, einfach, aber doch elegant: ein schwarzes Kostüm, eine saubere Bluse – alles sehr einfach. So etwas passte natürlich zu Spanien, weil die Frauen sich hier traditionell schwarz kleiden. (…) Natürlich wurde der Socorro Rojo von Spaniern geleitet, aber wer unermüdlich im Hintergrund tätig war und alle Fäden in der Hand hatte, wer sozusagen das Gerüst der Organisation aufbaute und zusammenhielt – das war Maria. Allerdings sahen damals viele in ihr nur die Gehilfin von »Carlos«, von Vidali, der ja viel mehr aus sich herausging und die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Carlos war ein Mensch, der ständig in Bewegung war, immer neue Ideen hatte. Bei deren Verwirklichung war Maria unentbehrlich, weil sie sich um die Details, um die Organisation der Dinge kümmerte, während er längst wieder mit etwas anderem beschäftigt war.«
Lazarett- und Sanitätsdienste
Als sich am 18. Juli 1936 die »Cuatro generales« gegen die Republik erhoben und den Bürgerkrieg auslösten, befand sich Tina Modotti in Cordoba, das sofort in die Hände der aufständischen Militärs fiel. Es war, wie Vidali in seinen Memoiren schreibt, ein Wunder, dass sie unerkannt aus der Stadt entkommen und nach Madrid zurückkehren konnte. Hier fand sie »Carlos« in einem ehemaligen Kloster in Cuatro Caminos vor, wo er als Politkommissar die Aufstellung einer hauptsächlich aus Kommunisten bestehenden bewaffneten Abteilung organisieren sollte, die später als Quinto Regimento, als Fünftes Regiment, bekannt wurde. Vidali berichtet, Tina habe sich ins Frauenbataillon dieser Abteilung eingeschrieben, und über Jahrzehnte wurde kolportiert, sie habe dort mit der Waffe in der Hand an den Kämpfen teilgenommen. Aber dafür gibt es keinerlei Zeugnis. Vielmehr stellte sich in diesen ersten Stunden des Krieges heraus, dass das spanische Rote Kreuz kläglich versagen und der Socorro Rojo gezwungen sein würde, dessen Funktionen zu übernehmen. Die Betreuung der Patienten in eilig eingerichteten Lazaretten und der Sanitätsdienst an der Front – oder, besser gesagt, an den vielen Fronten – wäre Sache des Roten Kreuzes und des Sanitätswesens der Armee gewesen. Aber das Rote Kreuz versagte, und die Militärärzte schlossen sich in der Mehrzahl den Putschisten um Francisco Franco an. Und so musste der Socorro Rojo umgehend bisher unbekannte Aufgaben übernehmen. Es mussten Lazarette, Sanatorien, Erholungsheime, Kindergärten und Waisenhäuser eingerichtet, Ärzte, Krankenschwestern und Sanitäter ausgebildet, Verbandszeug und Tragen beschafft bzw. letztere in eigenen Werkstätten erst hergestellt werden, und da diese enormen Aufgaben eine umsichtige und straffe Organisation erforderten, musste Tina wieder ihren Platz in der Leitung des Socorro Rojo einnehmen. Dennoch beschränkte sie sich nicht auf diese Rolle am Schreibtisch. Aber wenn sie überall selbst mit anpacken wollte, bedeutete dies nicht, dass sie sich für unentbehrlich hielt. Vielmehr wusste sie, wie wichtig ihr Beispiel für die blutjungen, in aller Eile ausgebildeten und völlig unerfahrenen Sanitäterinnen war, denen man die Angst vor dem ersten Fronteinsatz nehmen musste.
Die Kubanerin Maria Luisa Lafita gehörte damals zu einer Gruppe von Frauen und Männern, die unter der Leitung von Dr. Planelles das Hospital Obrero, ein Asyl für Tuberkulosekranke, in ein Lazarett für die Volksmilizen verwandeln mussten. »Der Socorro Rojo«, berichtete mir Lafita in den achtziger Jahren in Kuba, »schickte mich zusammen mit Tina Modotti, Matilde Landa und Maria Valero ins sogenannte ›Arbeiterkrankenhaus‹, das einem religiösen Orden unterstand. Die Nonnen weigerten sich, Verwundete aufzunehmen, und als die ersten Opfer der Kämpfe um Madrid eintrafen, mussten wir feststellen, dass alle Krankenzimmer abgeschlossen und die Schlüssel vertauscht worden waren. Daraufhin mussten wir die Türschlösser mit Pistolenkugeln sprengen. Dann, Anfang August, starben plötzlich mehrere freiwillige Sanitäterinnen und auch einige Patienten an einer Vergiftung. Es stellte sich heraus, dass man Zyankali in Essen getan hatte. Tina Modotti, Matilde Landa und ich wurden beauftragt, die Wachsamkeit gegen eventuelle weitere Sabotageakte zu erhöhen. Kurze Zeit darauf gab es wieder tödliche Vergiftungen, und diesmal fand man das Gift bei einer wunderschönen, etwa 35 Jahre alten Krankenschwester. Sie gestand, im Auftrag der Faschisten gehandelt zu haben und wurde zum Tode verurteilt. Von nun an war Tina die Küchenleiterin. Das war eine bescheidene Arbeit, die aber mit einer enormen Verantwortung verbunden war, weil man Tag und Nacht wachsam sein musste.«
Maria Luisa Lafita war auch Zeugin für Tinas häufige Fahrten an die Front. Am deutlichsten erinnert sie sich an ein Kinderkrankenhaus zu Füßen der Sierra de Guadarrama, in dem sie und Tina eine der schrecklichsten Szenen dieses Krieges erlebten: »Die Nonnen, denen das Krankenhaus unterstand, waren trotz aller Überredungskünste der Feinde nicht bereit, die republikanische Zone und ihre kleinen Patienten zu verlassen. Eines Tages gingen Soldaten auf einem nahegelegenen Berg in Stellung, und da sie unsere Fahnen bei sich hatten, fühlten sich die Nonnen sicher. Erst als der Beschuss des Krankenhauses begann, begriffen sie, dass sie es mit Franco-Truppen zu tun hatten. Sie führten die Kinder eilig hinaus auf den großen viereckigen Innenhof und hofften, der Feind würde das Feuer einstellen, wenn er sah, dass es da nichts als Frauen und Kinder gab. Aber der Beschuss ging weiter, und die Kinder wurden, eines nach dem anderen, getroffen und zu Boden gestreckt. Die Faschisten benutzten nicht nur normale Kugeln, sondern auch sogenannte Dum-Dum-Geschosse. Es war ein fürchterliches Blutbad. In aller Eile musste die Rettung der wenigen Überlebenden organisiert werden, und wieder meldete sich Tina für diese Aufgabe. Seite an Seite krochen wir, inmitten des Kugelhagels, auf dem Bauch in den Hof des Krankenhauses. Das Schlimmste war, dass wir manchmal aus nächster Nähe mit ansehen mussten, wie ein Kind unter unsagbaren Qualen verblutete, noch ehe wir es in Sicherheit bringen konnten. Wenn Tina damals bereits ein schwaches Herz hatte, dann müssen Erlebnisse wie dieses es noch kränker, noch anfälliger gemacht haben …«
Verausgabung der Kräfte
In den ersten Wochen nach Ausbruch des Krieges bewohnten Vittorio Vidali und Tina Modotti in einem Haus in der Calle del Príncipe de Vergara ein kleines Zimmer, das gleich neben dem Schlafsaal lag, in dem mehrere junge Mitarbeiterinnen des Socorro Rojo untergebracht waren. Zu ihnen gehörte Flor Cernuda, mit der ich 1985 in Madrid sprechen konnte.
»Weißt du, Maria konnte durchaus laut werden. Ich habe ja Wand an Wand mit ihr und Carlos gewohnt, und so wurde ich ungewollt Zeugin, wenn die beiden miteinander stritten. Dann merkte man, dass man es mit zwei außerordentlich starken Charakteren zu tun hatte. Derartige Streitereien kamen nicht oft vor, aber immerhin, man sah, dass sich Maria sehr wohl die Hosen anziehen konnte, wie wir Spanier sagen. Und einmal habe ich sie hier in diesem Haus so richtig erregt und wütend erlebt. Wir hatten gemeinschaftliche Waschräume, und eines Morgens vergaß sie dort ihren Kamm. Als sie ihn Minuten später holen wollte, war er verschwunden. Das war nun wirklich keine Tragödie, aber sie rannte durch den Korridor und fluchte laut auf Italienisch. Es hat mich sehr beeindruckt, die sonst so ruhige Maria in einem derartigen Zustand zu sehen. Heute weiß ich, dass es ihr dabei nicht um den Kamm ging. Es muss sie tief getroffen haben zu sehen, dass es unter uns, in der festgefügten Gemeinschaft des Socorro Rojo, Unehrlichkeit und Gemeinheit gab.«
In Mexiko hatte Tina Modotti noch fotografiert, in Spanien mutmaßlich nicht. Worker’s Parade, 1926
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An einem Tag im Herbst 1985 besuchte ich in Madrid mit Flor Cernuda alle die Orte, an denen Tina gewirkt hatte, bevor die Regierung und alle Organisationen im November 1936 nach Valencia übersiedelten und Madrid in den Händen der Verteidigungsjunta zurücklassen mussten.
Neben dem Haus in der Calle del Príncipe de Vergara und dem ehemaligen Hospital Obrero zeigte mir Flor das Haus, in dem Pablo Neruda gelebt und sein erstes aufrüttelndes Gedicht über Spanien geschrieben hatte. In der Casa de las flores, dem Haus der Blumen, gingen während des Krieges Dichter wie Rafael Alberti und seine Frau Maria Teresa León, Miguel Hernandez und Federico Garcia Lorca ein und aus, und auch Tina Modotti und Vittorio Vidali.
Zuletzt führte uns unser Weg in die Calle de José Abascal, zum ehemaligen Sitz des Provinzkomitees des Socorro Rojo. Hier richtete Tina damals in aller Eile einen der ersten Kindergärten ein. 1985 war das Gebäude, wie schon vor 1936, ein Kloster mit angeschlossenem Krankenhaus und Altersheim.
Im Dezember 1936 kam Tina überraschend aus Valencia nach Madrid und besuchte Vidali am Sitz des Fünften Regiments. Vidali berichtete später, sie sei sofort in sein Zimmer gelaufen und sei erst nach langer Zeit mit völlig verweintem Gesicht wieder aufgetaucht. Sie hatte kurz zuvor durch einen Brief von ihrer Schwester Mercedes vom Tode ihrer Mutter erfahren. Aber der in Triest aufgegebene Brief war, weil nicht einmal Tinas Familie ihren wahren Aufenthaltsort kannte, an eine Adresse in Paris geschickt worden und hatte insgesamt drei Monate gebraucht, ehe er sie erreichte.
Dort vermutlich schrieb Tina im Dezember 1936 einen Brief an ihre Schwester: »(…) Ich hatte nicht die Kraft, Dir sofort zu antworten. Mein einziger Wunsch in diesen Tagen war, alle meine Schwestern und Brüder um mich zu haben, denn ihre Nähe, Deine Nähe vor allem, hätte mir den ungeheuren Schmerz erträglicher gemacht; sie hätte ein wenig die große, fürchterliche Leere ausgefüllt, die unsere gesegnete Mutter mit ihrem Weggang hinterlassen hat. (…) Ich weiß, dass ich, wären die Umstände andere gewesen, meine Mutter in diesen letzten zehn Jahren hätte wiedersehen können. Dieser Gedanke ruft in mir tiefen Zorn hervor, und zwar gerade auf diese Umstände, die es mir unmöglich gemacht haben. Und der Gedanke, der mich wohl am meisten quält, ist eben dieser: dass die Trennung, die es unserer armen Mama versagt hat, ihre in der Ferne lebenden Kinder wiederzusehen, ihre letzten Lebensjahre so traurig gemacht hat. (…)«
Vidali berichtete später, Tina habe sich nur wenige Stunden ihrem persönlichen Leid überlassen. Vom nächsten Tag an sei sie wieder die unermüdliche und selbstlose Helferin all derer gewesen, die in Not waren. »Sie magerte zusehends ab und wirkte übermannt von der Erschöpfung und von all dem Leid, das sie mit ansehen musste. Ungeachtet dessen versuchte sie ständig, mehr zu tun, als ihre körperliche Verfassung gestattete, und niemand, nicht einmal ich, konnte sie überreden, sparsamer mit ihren Kräften umzugehen.«
Bemerkenswerte Festigkeit
In Mexiko traf ich in den achtziger Jahren die Spanierin Mura. Ihr Schicksal hatte Ernest Hemingway zur Gestaltung der Partisanin Maria in seinem Roman »Wem die Stunde schlägt« angeregt. Mura erzählte mir von einer Begegnung mit Tina in einem Lazarett, wo sie mit blutüberströmten Händen am Bett eines Verwundeten stand. Mura erfuhr später, dass Tina keine Spanierin war und fragte sie, warum sie in einem fremden Land ihr Leben aufs Spiel setzte. »Sie sah mich mit diesen unvergesslichen, traurigen Augen an und sagte, es gebe für sie nur eins im Leben: den Kampf gegen den Faschismus. Das sei, erklärte sie mir, keine Sache der Theorie, sondern eine Folge all dessen, was sie selbst durch den Faschismus erlitten hatte. In ihrem eigenen Land, in Italien, könne sie nicht kämpfen, und daher sei Spanien der letzte Schützengraben, der ihr geblieben war. Ich werde nie vergessen, was sie mir damals sagte: Wenn wir hier die Verlierer sind, dann verlieren wir überall …«
Der Brief, den Tina im Dezember an ihre Schwester Mercedes schrieb, wurde in Paris abgestempelt, und sie hat ihn wohl persönlich aufgegeben. Am 16. und 17. Januar 1937 vertrat sie als »Maria Ruiz« den Socorro Rojo bei einer internationalen Konferenz über Spanien-Hilfe. Ein Jahr später veröffentlichte die französische Sektion der IRH, der Sécours Populaire, eine Broschüre über den Socorro Rojo, und dort heißt es zu »Maria Ruiz«: »… von ihr kann man sagen, dass sie die Verkörperung des humanistischen Gefühls und des Internationalismus ist. Sie hat den Kampf gegen die Reaktion an den Fronten einer Reihe von Ländern geführt. Ihr krankes Herz ist immer empfänglich für das Leiden anderer. Aber ihre weibliche Zartheit und ihre Hingabe bei der Arbeit, wegen der sie von allen, die um sie sind, geliebt wird, mindern nicht die Festigkeit ihres Charakters, die ihr, zusammen mit ihrer Intelligenz, einen wohlverdienten Platz in den Reihen der Führer dieser großen Solidaritätsorganisation einräumen«.
Zu denen, die eng mit Tina im Socorro Rojo zusammenarbeiteten, gehörte auch die Argentinierin Fanny Edelman, langjährige Generalsekretärin der Internationalen Demokratischen Frauenföderation. Ich bin ihr als Spanisch-Dolmetscherin oft begegnet, aber ich konnte ihr keine Fragen zu Tina stellen, weil ich zu jener Zeit noch nichts von Modotti wusste. In den neunziger Jahren bat ich sie schließlich schriftlich um ihre Erinnerungen an »Maria«, und sie schrieb mir aus Argentinien: »Ich hatte tatsächlich das Privileg, mit ihr in der spanischen Roten Hilfe zu arbeiten, und ich werde nie ihre starke Persönlichkeit, ihren Sanftmut und ihren Verstand vergessen können, ihre Identifikation mit der Sache, die uns in jenem Land zusammengeführt hat, das in diesen unvergesslichen, harten, aber wunderbaren Jahren zu unserem eigenen Land wurde. ›Maria‹ war mir Schwester und Lehrerin. Dieser scheinbar schwache, zarte, schlanke Körper barg all ihre revolutionäre Leidenschaft, die frei war von schrillen Tönen, aber von bemerkenswerter Festigkeit, ich denke, Maria fühlte sich vor allem als Internationalistin. Das begriff ich vom ersten Augenblick an, und jede ihrer Gesten, jedes ihrer Worte bestätigte es mir. Wenn wir das Haus des Marquis de Montornez, den Sitz der Roten Hilfe, verließen und durch die dunklen Gassen Valencias zur Calle Conde de Carlez gingen, wo wir wohnten, spürte ich ihre Unterstützung, ihre absolute Solidarität mit mir, die ich damals noch so jung war. Sie gab mir Ratschläge, brachte mich dazu, über jedes Ereignis nachzudenken. Bald liebte ich sie zutiefst; ich bewunderte sie, sah in ihr ein Symbol all der Internationalisten, die nach Spanien gekommen waren, bereit, wenn nötig ihr Leben zu geben, um das Land vor dem Faschismus zu bewahren.«
Das Jahr 1937 begrüßten Vidali und Tina in Madrid gemeinsam mit einer Gruppe von engen Freunden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein fröhlicher Silvesterabend war. Aber auch wenn ein Ende des Krieges noch nicht abzusehen war, konnte keiner von ihnen ahnen, wieviel Schmerz, wieviel Schrecken und wieviel Leid das Neue Jahr für sie und das spanische Volk bereithielt.
Quelle: junge Welt, Aus: Ausgabe vom 24.12.2016, Seite 12 / Thema