Willy Gengenbach und die vergessenen Spanienkämpfer im Lager von Le Vernet. Von Jörg Wollenberg.

Willy Gengenbach und die vergessenen Spanienkämpfer im Lager von Le Vernet1

Die kleine französische Gemeinde Le Vernet in den französischen Seealpen hat sich seit dem Germanwings-Absturz vom 24. März 2015 mit mehr als 150 Opfern in das Gedächtnis der Deutschen eingeprägt. Mit dem gleichnamigen Ort am Rande der Pyrenäen verbindet sich noch eine andere Geschichte des Grauens für Deutsche: Le Vernet (Ariège) war von 1939 bis 1944 ein Internierungslager für Antifaschisten aus Europa. Zunächst im Frühjahr 1939 als Flüchtlingslager für Spanienkämpfer konzipiert, verstarben hier 217 der 3.728 Internierten. Die Mehrzahl der Hitlergegner wurde ab 1942 zusammen mit Frauen und Kindern aus andern Lagern nach Deutschland deportiert und kam in Auschwitz um ‒ darunter Theodor Wolf, der einstige Chefredakteur des „Berliner Tageblatt“. Andere Spanienkämpfer wie Franz Dahlem, Friedrich Wolf oder Paul Merker kamen mit dem Leben davon, ebenso wie die in der „freien Zone“ Frankreichs internierten prominenten Deutschen aus den Lagern von Gurs, Les Milles oder St. Cyprien: unter ihnen Lion Feuchtwanger, Alfred Kantorowicz, Max Ernst. Diesen und hunderten anderen deutschen Antifaschisten gelang es mit Heinrich Mann und Ernst Bloch, noch rechtzeitig von Marseille aus, mit einem nicht allen zugänglichen Visum des amerikanischen „Emergency Rescue Committee“ (ERC) der Auslieferung an die Gestapo zu entgehen. Das ERC, nach der deutschen Besetzung Frankreichs in New York von Quäkern und liberalen Intellektuellen initiiert, entsandte den amerikanischen Journalisten Varian Fry nach Marseille. Mit Hilfe eines großen Netzwerks von Unterstützern und mehreren Konsulaten gelang es Fry bis zu seiner Ausweisung durch die französische Polizei im August 1941, zahlreichen gefährdeten deutschen Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaftlern und Politikern das Leben zu retten.
Auch der am 10. Mai 1940 in Le Vernet eingelieferte, damals 24 Jahre alte Willy Gengenbach überlebte mit Rudolf Leonhard, Gerhard Eisler und Walter Janka das „französische Schandmal von Le Vernet“, wie er mir im Februar 1990 mitteilte. Er forderte dazu auf, die französischen Internierungslager („Camps de Concentration“) als deutsch-französisches Tabu aufzuarbeiten. Vergleichbare Erfahrungen hatte er schon 1933 als Häftling im KZ Börgermoor gemacht. „Der einzige Unterschied: Damals schlugen sie noch brutaler auf uns ein“. Er teilte dieses doppelte Schicksal mit dem Bremer Spanienkämpfer Heinrich Windt, genannt Schramm. Dieser Kommandeur des Hans-Beimler-Bataillons war 1933 als KPD-Mitglied im Bremer KZ Mißler interniert worden, bevor er über Paris nach Spanien floh, um dort die Republik zu verteidigen. 1945 gehörte Schramm zu den zentralen Figuren beim Wiederaufbau der Parteien in Bremen. Und das im Konflikt mit einem anderen Spanienkämpfer, der sich dem französischen Widerstand angeschlossen hatte. Es handelt sich um Walter Rother-Romberg. Er wurde im Juni 1945 vom Londoner Exilvorstand mit dem Aufbau der SPD in der Bremer Region beauftragt. Als Vertrauter von Kurt Schumacher übernahm er die Funktion eines Parteisekretärs der SPD für Bremen. Ein weiterer Bremer Spanienkämpfer war der Kunstschlosser Carl Preissner (1894-1959), der nach 1920 als Literaturobmann in die KPD-Bezirksleitung Nordwest gewählt worden war und als Redakteur für das Zentralorgan der KPD tätig wurde. 1933 floh er vor den Nazis und fuhr zusammen mit seinem Sohn mit dem Fahrrad nach Moskau. Dort arbeitete er unter seinem Decknamen Peter Kast als Filmemacher und schrieb Exposés für Trickfilme. Nach dem Moskauer Schauprozess von 1936 als „Abweichler“ und „Opportunist“ von „Säuberungen“ bedroht, ging er von 1936 bis 1939 als Freiwilliger zu den Internationalen Brigaden nach Spanien, um anschließend im französischen Lager St. Cyprien interniert zu werden. Nach 1945 kehrte er nicht nach Bremen zurück. Er arbeitete als Kulturredakteur des „Vorwärts“ in Berlin und lebte als Schriftsteller in der DDR.2
Der Kommunist Willy Gengenbach setzte nach 1945 auf eine politische Betätigung in seiner alten Heimat im Ruhrgebiet. Hier wurde er schon vor dem KPD-Verbot in Westdeutschland verfolgt: Er floh ein zweites Mal nach Frankreich und überlebte in Paris als Bouquinist am Seine-Ufer. Dort war ihm ein „Prospekt der Volkshochschule Nürnberg3 in die Hände gefallen“, wie er mir schrieb: „Die Kenntnisnahme der am 10. Juni 1986 im Gewerkschaftshaus stattgefundenen Kolloquien (zum 50. Jahrestag des Spanischen Bürgerkriegs) veranlassen mich, Ihnen das beiliegende Material zu schicken. Was die Entsorgung betrifft, geht es hier vielleicht weit schlimmer zu als bei Euch.“
Dieser handschriftliche Brief vom 17. Februar 1990 mit all den persönlichen Briefen, Zeichnungen und Gedichten eines mir bis dahin Unbekannten hat mich sehr berührt, zumal er an einen entfernten, in meiner Familie lange verdrängten Verwandten erinnerte, der mit Gengenbach im französischen Exil überlebt hatte: Erich Wollenberg. Dieser einstige Leutnant der kaiserlichen Armee verteidigte im April 1919 an der Seite von Erich Mühsam, Ernst Toller und Gustav Landauer die Münchener Räterepublik, die ebenso blutig von den Freikorps niedergeschlagen wurde wie zuvor die Bremer am 4. Februar 1919. „Als Rotarmist vor München“ übernahm er ab 1921 wichtige Funktionen in der KPD. Er war am Aufbau des militärischen Abwehrdienstes der KPD beteiligt und wurde wie Preissner Redakteur in den Pateizeitungen. Nach dem Scheitern des „deutschen Oktober“ floh er Anfang 1924 mit der abgesetzten KPDFührung um Brandler und Thalheimer nach Moskau, wo er im Marx-EngelsInstitut arbeitete und zum Professor für Revolutionsgeschichte an der Internationalen Leninschule ernannt wurde. Nach Meinungsverschiedenheiten mit der KPD-Parteiführung wurde Wollenberg im April 1933 aus der Partei ausgeschlossen. Der als „Trotzkist“ denunzierte Wollenberg entging der Verhaftung durch Stalin, später durch Hitler, indem er 1934 von Moskau über Prag und von dort 1938 nach Paris floh. Nach der Einweisung in das Internierungslager Le Vernet gelang ihm im Mai 1940 mit Hilfe französischer Offiziere die Flucht über Spanien und Portugal nach Casablanca. Als Zivilinternierter konnte er dort der Auslieferung an die Gestapo entgehen – eine spannende Lebensgeschichte als Grundlage für den Kino-Klassiker „Casablanca“.
Nach der Befreiung vom Faschismus wirkte Wollenberg als freier Journalist und Autor in Frankreich und Deutschland. Als Publizist veröffentlichte er schon Anfang Januar 1944 in Casablanca in Zusammenarbeit mit Klaus Mann eine Vision des europäischen Friedens nach Hitler. (Hitler et le Militarisme Allemand et la Paix Europeenne). Später bezweifelte er Wehners Wende und Thälmanns Größe. Er beriet im algerischen Bürgerkrieg Ben Bella und Willy Brandt und verfasste für den Vorstand der SPD unsägliche „Tatsachen und Berichte aus der Sowjetzone“ („Von der Gestapo zum SSD“; „Von der NSDAP zur KP-SED). Am 6. November 1973 verschied er friedlich in Hamburg. Jörg Wollenberg

1 Grundlagen dieses Beitrags bilden neben Interviews mit Claire Preissner und Käthe Lübeck-Popall zu den Bremer Spanienkämpfern in den achtziger Jahren vor alles Dokumente aus dem Nachlass von Erich Wollenberg: Briefe von Klaus Mann an Erich Wollenberg vom 30.5.1944 und 12.8.1944; Briefe von und an Ruth und Walter Fabian, die sich auf deren Mitarbeit im Hilfskomitee von Fry (Centre Américain de Secours ) beziehen; Wollenbergs Antrag vom 15.4.1959 auf Haftentschädigung; das Gutachten von Arno Behrisch (MdB) vom 11.5.1960 über die Folgen der Flucht von Wollenberg 1934 nach Prag; Brief von Willy Brandt vom 20.12.1960 an Wollenberg, Algerien betreffend; Wollenbergs nur zum Teil veröffentlichte Thälmann-Biografie und sein Gutachten über die Ursprungsfassung des Buchs von Herbert Wehner: Zeugnis – Persönliche Notizen 1929-1942, hrsg. v. Gerhard Jahn, Kiepenheuer & Witsch, Köln1982.

2 Interview mit seiner Frau Claire Preissner am 5. und 12. Februar 1982 in Bremen.

3 Die Volkshochschule Nürnberg wurde damals vom Autor geleitet.

Quelle: „Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung“, Nr. 50, September  2016.

Die Redaktion KFSR bedankt sich bei Dr. Rainer Holze für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung des Beitrages von Jörg Wollenberg auf der KFSR-Homepage. Wir weisen gern auf die Mitteilungen und die Erreichbarkeit hin:

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