Hommage à Ruth Rewald und eine Ehrenmedaille der Stadt Les Rosiers für Dirk Krüger
Dirk Krüger, Literaturwissenschaftler aus Wuppertal, hat 1990 über die die deutsch-jüdische Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald promoviert. Ruth Rewald floh mit ihrem Mann Hans Schaul nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 nach Paris. 1940 floh sie mit ihrer Familie vor den Nazis aus Paris in das Dorf Les Rosiers-sur-Loire, wo sie am 17. Juli 1942 von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde. Im März dieses Jahres wurde in Rosiers eine Ausstellung zu Ruth Rewald gezeigt und Dirk Krüger von der Stadt mit der Ehrenmedaille (MEDAILLE D’HONNEUR) „Avec les compliments du Maire et du Conseil Municipal“ ausgezeichnet. Wie es dazu kam, erzählt Dirk Krüger im folgenden Interview.
Frage: Wie kam es dazu? Gibt es eine Vorgeschichte?
Dirk Krüger: Ja, eine längere. Im Jahre 1984 habe ich mit Prof. Thomas Koebner, dem Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Wuppertal, eine Dissertation zur Literatur zum Spanischen Bürgerkrieg besprochen. Wir einigten uns darauf, nicht die bekannte, umfangreiche Literatur neu zu bewerten und zu interpretieren. Mein Ziel war es, nach wenig oder gar nicht bekannten Arbeiten von solchen Exil-Autoren zu forschen, die in der Wahrnehmung nicht mit der Literatur zum Spanischen Bürgerkrieg in Verbindung gebracht wurden.
Frage: Können sie einige Namen nennen?
Dirk Krüger: Ja. Da war Paul Celan mit dem Gedicht „Schibboleth“, René Schickeles „Die Flaschenpost“, Remarques „Arc de Triomphe“, Ivan Golls „Jean sans terre“ (dt. Johann ohne Land) und Gustav Reglers „Juanita“. Ich habe auch die Werke von Armin T. Wegner und Else Lasker-Schüler daraufhin untersucht, aber bei ihnen keine literarische Äußerung zum Spanischen Bürgerkrieg gefunden. Im Gegensatz dazu haben sich die beiden Wuppertaler Arbeiterschriftsteller Peter Kast und Walter Gorrish in ihrem literarischen Werk sehr umfangreich und intensiv zum Spanischen Bürgerkrieg geäußert.
Frage: Sind sie in diesem Zusammenhang auf Ruth Rewald gestoßen?
Dirk Krüger: Ja. Ich bin beim Studium des Bandes 6 , „Exil in den Niederlanden und in Spanien“ des auf sieben Bänden angelegten Werks „Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945“ in einer Fußnote auf sie gestoßen.
Frage: Was genau haben sie erfahren?
Dirk Krüger: Dass ihr Nachlass im Zentralen Staatsarchiv der DDR, in Potsdam, archiviert sei und dass sich darin das unveröffentlichte Typoskript zu dem Kinder- und Jugendbuch „Vier spanischen Jungen“ befinde.
Frage: Wie ging das weiter?
Dirk Krüger: Nun, ich habe 1986 die Erlaubnis bekommen, den Nachlass in Potsdam einzusehen. Ich habe dann mehrere Wochen im Archiv gearbeitet. Viele Teile musste ich handschriftlich erfassen, weil damals die Kopiermöglichkeiten noch begrenzt waren. Vom Typoskript und anderen Original-Dokumenten wurden Filme gemacht und davon dann Kopien gezogen. Sie wurden dann Ende 1987 die Grundlage für die Veröffentlichung des Buches „Vier spanische Jungen“ in einem Kölner Verlag.
Frage: Gab es keine Schwierigkeiten?
Dirk Krüger: Nein. Ich habe alle nur mögliche Unterstützung erfahren. Ich wurde auch darüber informiert, wie der Nachlass nach Potsdam gekommen ist.
Frage: Und wie ist er?
Dirk Krüger: Das ist eine etwas längere Geschichte. Ruth Rewald und ihr Mann, der jüdische Jurist, Hans Schaul, sind 1933 vor den Nazis nach Paris geflohen. Dort hat sie mit zahlreichen Gelegenheitsarbeiten die Familie „über Wasser gehalten“. Und sie hat zwei Kinder- und Jugendbücher geschrieben: „Janko – Der Junge aus Mexiko“ und „Tsao und Jing Ling – Kinderleben in China“. Das hat damals in der Exilpresse großes Aufsehen erregt. In der AIZ wurde gar ein ganzes Kapitel aus dem „Janko“ abgedruckt.
Im Herbst 1936 ist Hans Schaul nach Spanien gegangen und hat dort praktisch bis zum Ende des Krieges in den Internationalen Brigaden gekämpft.
Frage: Und was machte seine Frau?
Dirk Krüger: Ruth Rewald blieb zunächst in Paris, wo am 16. Mai 1937 die Tochter Anja geboren wurde.
Als ihr Mann in einem Brief von den vier spanischen Jungen berichtete, die am Nachmittag des 16. Juni 1937 aus der Bergarbeiterstadt Penarroya zum „Bataillon der 21 Nationen – Tschapaiew“ übergelaufen waren, wurde unter anderem von Gustav Regler beschlossen, Ruth Rewald nach Spanien einzuladen. Verbunden war das mit der klaren Absicht, dass sie ein Kinder- und Jugendbuch dazu verfasst.
Frage: Wie hat sie reagiert?
Dirk Krüger: Sie hat, nachdem sie eine Betreuung für ihr Kind gefunden hatte, dann um die Jahreswende 1937/38 drei Monate in dem Kinderheim „Ernst Thälmann“, dass die 11. Internationale Brigade in einem verlassenen Schloss in der Nähe von Madrid eingerichtet hatte, zusammen mit den spanischen Kindern gewohnt und gelebt.
Nach ihrer Rückkehr hat sie das Buch „Vier spanische Jungen“ geschrieben, Vorträge gehalten und zahlreiche Reportagen verfasst, die teilweise in Zeitungen in der Schweiz veröffentlicht wurden – und etwas Geld einbrachten. Für das Buch aber fand sich kein Verleger.
Frage: Was passierte dann?
Dirk Krüger: Im Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht Frankreich. Bereits am 14. Juni 1940 erfolgte die kampflose Einnahme von Paris. Frankreich zerfiel in zwei Teile: Es entstand eine „besetzte Zone“ und ein französische Restgebiet mit dem Regierungssitz im Kurort Vichy und mit General Petain an der Spitze.
Hans Schaul, der aus Spanien zurückgekehrt war, wurde zunächst im Lager Le Vernet und dann in dem Lager Djelfa in Algerien interniert.
Er wurde von dort in die Sowjetunion eingeladen. Damit konnte er sein Leben retten.
Ruth Rewald packte im Mai 1940 ihr gesamtes geschriebenes und gedrucktes Hab und Gut in einen Koffer (deutsche Frauen mit Kindern waren noch von der Internierung in Lagern ausgenommen) und floh zunächst nach Saint Nazaire. Als die Stadt von den Nazis zu einem militärischen Sperrgebiet erklärt wurde, floh sie weiter die Loire entlang und gelangte am 29. November 1940 nach Les Rosiers-sur-Loire. Sie wurde dort gut aufgenommen, bekam eine kleine Wohnung und konnte im Garten Obst und Gemüse anpflanzen und damit zur „Selbstversorgung“ beitragen. Ihre Tochter konnte ohne Probleme die Schule besuchen.
Den zahlreichen Karten, die sie in dieser Zeit an ihren Mann richtete und die dieser retten konnte, konnte ich viele Informationen über ihre Lebensumstände und etliche Kommentare und politische Einschätzungen, besonders nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, entnehmen.
Frage: Können sie ein paar konkrete Fakten nennen?
Dirk Krüger: Ja, gerne. Sie waren, so würde man es heute ausdrücken, außerordentlich beliebt und gut integriert. Davon zeugen z.B. die Schulfeste an denen sich Anja und ihre Mutter aktiv beteiligten und die Geburtstage Anjas, zu denen immer viele Kinder kamen. In den Karten gibt es keinen Hinweis darauf, ob sie sich schriftstellerisch betätigt hat. Auch im Nachlass habe ich nichts dazu gefunden.
Am 22. Juni 1942 schreibt sie an ihren Mann: „Ansonsten trage ich jetzt das Emblem meiner ‚Rasse‘“. Und sie fährt fort: „Das hat mir viel Sympathie eingebracht und zwei Paar Schuhe in keinem schlechten Zustand. Du weißt aber, dass ich mich darüber nicht amüsiere.“
Ihre letzte Karte trägt das Datum 17. Juli 1942 und das Poststempeldatum 18. Juli 1942. Sie schreibt: „Mein lieber Hans! Es ist soweit. Ich fahre zur Erntearbeit, ich weiß noch nicht wo…Ich glaube nicht, daß du so bald Nachricht bekommst…Außer der Trennung von Anja wird mir nichts etwas ausmachen…Dir alles Gute! Ruth“
Frage: Was geschah im Juli 1942 genau?
Dirk Krüger: Les Rosiers lag in der „ZONE D’OCCUPATION ALLEMANDE“ in der besetzten Zone. Ruth Rewald wurde am 17. Juli 1940 im Rahmen der Großrazzia „Rafle du Vel‘ d’Hiv“, die Teil der „Operation vent printanier“ und Teil der „Operation écume de mer“ zur „ehebaldigsten restlosen Freimachung Frankreichs von Juden“ von der Gestapo mit Unterstützung der französischen Polizei verhaftet und ins Gefängnis von Angers gebracht.
Am 18. und 19. Juli wurden von den Behörden die Deportationslisten erstellt. Darauf waren die Namen von 824 Juden, darunter 430 Frauen, registriert. Ruth Rewald bekam die Nummer 68.
Am 20. Juli wurden die Gefangenen dann in Viehwaggons gesperrt und bekamen „Verpflegung für 14 Tage“.
Um 21.35 Uhr, verließ der Zug den Bahnhof von Angers st. Laud. Sein Ziel: Das KZ Auschwitz.
Ruth Rewald wurde nur 36 Jahre alt. Ich habe mich oft gefragt, was sie nicht alles hätte schaffen können, wenn sie überlebt hätte. Ihre Bücher waren Beweise ihrer großartigen Fähigkeit Bücher für Kinder und Jugendliche zuschreiben.
Frage: Was geschah mit Anja und dem Koffer mit ihrem Hab und Gut?
Dirk Krüger: Das Mädchen wurde zunächst von der Nachbarin und später von der Lehrerin betreut.
Der Koffer mit all ihren Unterlagen wurde beschlagnahmt und in das Gestapo-Hauptquartier nach Berlin gebracht. Dort wurde er nach der Befreiung Berlins von den Soldaten der Roten Armee gefunden und nach Moskau gebracht.
1957 wurde er dann in einem „Staatsakt“ der DDR übergeben, die ihn im Zentralen Staatsarchiv in Potsdam archivierte.
Er schlummerte danach unentdeckt und unbeachtet vor sich hin, selbst ihr Mann wusste davon nichts, und wurde erst 1979 durch die Wissenschaftlerin Silvia Schlenstedt entdeckt. Und so kam es 1981 zu dem Hinweis in dem schon erwähnten Buch.
Frage: War das Zentrale Staatsarchiv die einzige Quelle für ihre Forschungen?
Dirk Krüger: Nein. Ich war zunächst einfach nur überwältigt. Hier war eine vollständig in Vergessenheit geratene Kinder- und Jugendbuchautorin wieder „auferstanden“!
Die Nazis wollten die Erinnerung an sie für immer auslöschen. Mit ihrem Hang zur Bürokratie durchkreuzten sie selbst ihre Absicht. Ich wollte unbedingt weiter forschen. Ich wollte alles wissen, was mit diesen Menschen geschehen war.
Frage: Wie sollte das geschehen? Was wollten sie weiter unternehmen?
Dirk Krüger: Ich hatte inzwischen erfahren, das ihr Ehemann, Hans Schaul, noch in der DDR lebte. Ich bekam die Gelegenheit mit ihm und seiner zweiten Ehefrau, Dora, lange Gespräche zu führen. Hans hat mir dabei viele Informationen über seine Rettung, über ihre gemeinsame Zeit in Paris gegeben, über seine Zeit in Spanien, Einzelheiten zu den „Vier spanischen Jungen“, die er fotografiert hatte, über die weltanschaulichen Positionen seiner Frau. Und er hat mir alle 42 Karten gegeben, die er in der Zeit vom April 1941 bis Juli 1942 von Ruth bekommen hat – darunter auch die letzte vom 17. Juli 1942. Es ist das letzte Lebenszeichen von Ruth Rewald.
Frage: Haben sie nicht auch in Les Rosiers geforscht?
Dirk Krüger: Ja. Es war ein emotional sehr bewegender Besuch. Ich war im Sommer 1988 in Les Rosiers. Im Rathaus zeigte man mir das noch erhaltene große Buch mit den Registrierungen, welche Ausländer, wann in Les Rosiers angekommen sind. Darin fand ich den genauen Ankunftstag von Ruth Rewald und ihrer Tochter Anja – es war der 29. November 1940.
Ich besuchte auch die Tochter des damaligen Bürgermeisters, Josette Geffard, die als 14jährige die Zeit erlebt hatte und viele Einzelheiten berichten konnte. Auch übergab sie mir etliche Fotos von Anja, mit der sie befreundet war. Von ihr habe ich viel über das Leben in der Zeit der Besetzung erfahren. Sie hat mir das Haus gezeigt in dem Ruth und ihre Tochter gewohnt haben und die Schule in die Anja gegangen ist. Ganz wichtig war, dass sie mir die Adresse der Lehrerin von Anja geben konnte. Dadurch konnte ich ihr einen Brief mit vielen Fragen und Bitten schreiben. Sie hat ganz detailliert und mit großem Schmerz und Trauer über ihre Bemühungen berichtet, das Kind zu retten, es zu adoptieren. Aber die Nazi-Barbaren hätten das weinende Kind „am Morgen des 25. Januar 1944“ brutal aus der Klasse geholt. Es wurde nach Drancy und von dort, wie ihre Mutter, nach Auschwitz deportiert und ermordet. Sie hat die ersten kleinen Briefe und Zeichnungen von Anja an ihren Vater und an den Weihnachtsmann hinzugefügt.
Frage: Was haben sie mit all den Informationen gemacht?
Dirk Krüger: Ich kombinierte sofort nach meinen Forschungen in Potsdam einen Zusammenhang zwischen dem Nachlass und dem kleinen Hinweis auf die schwierige Lage der Kinder- und Jugendbuchtautoreninnen und Autoren im Exil in Weiskopfs Buch „Unter fremden Himmeln“. Darin lautet der Kern-Schluss-Satz: „Aber auch die in Deutsch weiterschreibenden Jugendschriftsteller stehen am Ende der Exilzeit keineswegs mit leeren Händen da.“ Mir war sofort klar, das traf, auch wenn sie nicht genannt wurde, auf Ruth Rewald zu.
Und so beschloss ich mit Zustimmung von Prof. Koebner, die Anlage und das Thema der Dissertation zu ändern. Wir gaben ihr den Titel „Die deutsch-jüdische Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald und die Kinder- und Jugendliteratur im Exil 1933-1945“. Ich habe die Arbeiten mit der Veröffentlichung des Buches „Vier spanische Jungen“ 1987, der Veröffentlichung der Dissertation im dipa-Verlag 1990, der mündlichen Prüfung am 17.10.1989 und mit der Übergabe der Promotionsurkunde am 28. 2.1990 abgeschlossen.
Frage: Was geschah mit den Ergebnissen ihrer Arbeit?
Dirk Krüger: Es setzte ein richtiger Hype ein. Lexika mussten ergänzt werden, in Aufsätzen wurde auf ihr Werk und ihr Schicksal hingewiesen, es erschienen zahlreiche Beiträge in wissenschaftlichen Publikationen, es entstanden Examensarbeiten, Radiosendungen, Vorträge und Seminare an Universitäten, Ausstellungen. Der Leiter der Hamburger Arbeitsstelle für Deutsche Exilliteratur, Frithjof Trapp, urteilte: „Das ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter, aufregender Fund!“
Mitte der neunziger Jahre flaute das Interesse ab. Es wurde ruhig um das Thema Ruth Rewald.
Frage: Und, ist es weiter ruhig?
Dirk Krüger: Es klingt komisch, aber in den letzten zwei bis drei Jahren gibt es wieder ein gesteigertes Interesse.
Frage: Wie das?
Dirk Krüger: Es erreichten mich Anfragen und Bitten um Mitarbeit aus Israel, Österreich und der Schweiz. In dem umfangreichen Roman „Exil der frechen Frauen“ ist sie eine der drei Hauptfiguren. Im „Argonautenschiff“ dem Jahrbuch der Anna Seghers-Gesellschaft 2012 wurde mein Beitrag zu Rewalds Buch „Tsao und Jing Ling – Kinderleben in China“ publiziert. Sehr wichtig wurden Beiträge in der „Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur“ und im „Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945“. Auch in der DDR gab es einige Artikel.
In diesen Tagen erreichte mich die Nachricht, dass ihr Buch „Vier spanische Jungen“ in die spanische Sprache übersetzt vorliege und dass die Gemeinde Penerroya die Finanzierung der Herausgabe des Buches in einem spanischen Verlag übernehmen wird. Auch der Herausgeber des Buches „Erzählungen und Berichte aus dem Spanischen Bürgerkrieg“, Erich Hackel, hat einen Beitrag von Rewald aufgenommen.
Frage: Hatte/hat das alles etwas zu tun mit der Einladung und den Aktivitäten in Les Rosiers-sur-Loire am 17. März 2016?
Dirk Krüger: Ja und Nein. Es gab in diesem Ort zwei Etappen. Die erste kann so zusammengefasst werden. Daniel Queyroi, Kulturdezernent von Les Rosiers, hat als Grundschullehrer mit seiner dritten Klasse 1997 Befragungen unter den Einwohnern von Les Rosiers durchgeführt. Das Projekt stand unter dem Titel „Als der Krieg nach Les Rosiers kam“. Es ging dabei um Erinnerungen an die Zeit der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht. Dabei sind sie auch auf das Schicksal von Ruth Rewald und ihrer Tochter Anja gestoßen.
Ihr Schicksal fand so Eingang in eine Dokumentation zum Projekt und in das umfangreiche Buch „Les Rosiers, entre Loire et Authion“. Es trägt den Untertitel „Wie uns die Archive und die Menschen die Geschichte erzählen“.
Ein weiteres Ergebnis des Projekts war die Anbringung einer Gedenktafel an dem Kriegerdenkmal („Monument du morts“) für die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs im Garten vor dem Rathaus, die an die Deportation von Ruth Rewald-Schaul und ihrer Tochter, Anja, erinnert.
Das Ergebnis der Arbeit von Franck Marché „et son travail sur la déportation des Juifs en Saumur“ war eine große Tafel mit den Namen aller 824 deportierten Juden vom 20. Juli 1942. Damit schien das Thema abgearbeitet.
Frage: Und war es das?
Antwort: Nein. Es gab plötzlich und gänzlich unerwartet einen aktuellen Anlass, sich erneut mit dem Schicksal von Ruth Rewald und ihrer Tochter, Anja, zu beschäftigen.
Im Februar 2015, erreichte den Bürgermeister von Les Rosiers die „ACTE DE DÉCÈS“ (Sterbeurkunde) des „ONAC-Office National des Anciens Combattants et Victimes de Guerre“. Darin wird unter Berufung auf einen Erlass vom 30. Oktober 1945, Artikel 3, mitgeteilt, dass Anja Schaul am 15. Februar 1944 in Auschwitz (Pologne) gestorben sei. Sie sei am 16.Mai 1937 in Paris geboren und damit Französin und „Victime de Guerre“.
Frage: War das denn wirklich ihr Todestag?
Dirk Krüger: Das Datum kann nicht das tatsächliche Todesdatum sein. Sie wurde nach Auskunft der Lehrerin am 25. Januar 1944 aus der Klasse geholt und in das Massensammellager Drancy bei Paris gebracht.
Von dort wurde sie nach Auschwitz deportiert.
Wahrscheinlich ist, dass der 15. Februar 1944 der Tag war, an dem sie von Drancy nach Auschwitz deportiert wurde und man dieses Datum als Todesdatum festgelegt hat. Denn es ist sicher, dass die Nazis auch für diesen Transport Listen angefertigt haben, auf denen Anjas Name verzeichnet war,
In der DDR wurde als Todestag für Anja und für ihre Mutter der 8. Mai 1945 festgelegt.
Frage: Was folgte auf diesen Brief? Welche Reaktionen löste er aus?
Dirk Krüger: Dieser Brief motivierte Daniel Queyroi, den Kulturdezernent von Les Rosiers, die Lehrerinnen und Lehrern („professeurs“) des „Collège Paul Eluard, Gennes Val de Loire“ Christiane Armendinger, Olivier Godart, Boris Battais, Laurence Delacroix, Burki Bialas und Laure Hillairet, die„élèves de 3ème D et 3ème F“ und die „Commune des Rosiers-sur-Loire“ die Nachforschungen zu Ruth Rewald wieder aufzunehmen.
Man bemühte nun das Internet und stieß auf umfangreiche Informationen und auf die umfangreichen Ergebnisse meiner Forschungen, die in der Dissertation zusammengefasst und im dipa-Verlag als Buch veröffentlicht sind.
Christiane Armendinger schrieb einen langen Brief an mich – aber leider an meine Adresse aus dem Jahr 1988. Der Brief kam zurück. Der Deutschlehrer Burki Bialas ermittelte dann über die Homepage der Stadt Wuppertal meine Adresse und Telefon-Nummer.
Und so erreichten mich im November sein Anruf und die Information, dass ich am 17. März zu den Aktivitäten in Les Rosiers eingeladen sei. Man wolle eine von den Schülern erarbeitete Ausstellung zeigen und an dem Haus, in dem Ruth Rewald gewohnt hat, eine Gedenktafel anbringen. Man bat mich, meine umfangreiche Sammlung von Originaldokumenten für die Ausstellung zur Verfügung zu stellen.
Frage: Was geschah dann am 17. März?
Dirk Krüger: Nach einem offiziellen Mittagessen der Gemeinde wurde um 17.00 Uhr, gemeinsam vom Bürgermeister und mir feierlich die Gedenktafel am Haus, in dem Ruth Rewald und ihre Tochter gewohnt haben, enthüllt. Über einhundert Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer des Collège waren dabei. Besonders beeindruckend und anrührend war die Anwesenheit des stolzen Hausbesitzers und zahlreicher Bürgerinnen und Bürgern, darunter waren etliche, die die Zeit bewusst erlebt und Ruth und Anja gekannt haben und sich an sie erinnerten.
Der Bürgermeister, Denis Sauleau, danke in seiner Ansprache allen Beteiligten an den Aktivitäten und appellierte an die junge Generation so etwas, was Ruth und ihrer Tochter passiert sei, nie wieder zuzulassen. Er betonte, seit 60 Jahren seien Deutschland und Frankreich versöhnt und es sei ihre wichtigste Aufgabe, den Frieden in Europa zu sichern.
Auch ich bekam die Gelegenheit, allen Beteiligten zu danken und ihnen zu versichern, dass ich mit meinen Freundinnen und Freunden in Deutschland weiter aktiv bleiben werde im Kampf gegen alle Formen des Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus. Ich nähme die Motivation und Gewissheit mit, dass die Erinnerung an Ruth und Anja, die ihre letzten Lebensjahre hier in diesem Ort verbrachten, in Les Rosiers als Mahnung und Aufforderung nie vergessen werde.
Um dazu aufzurütteln, die Situation aller Kinder, Frauen und Männer nicht zu vergessen, die heute in einer vergleichbaren Situation wie Ruth und ihre Tochter sind, trugen die Schülerinnen und Schüler des Collège einige Strophen des Liedes „Göttingen“ von Barbara vor. Anschließend ertönte das Lied „Nuit et Brouillard“ von Jean Ferrat. Eine Schweigeminute beendete die bewegende Zeremonie.
Frage: Wie war das mit der Ausstellung? Wie ist die Eröffnung abgelaufen?
Dirk Krüger: Sie wurde in Anwesenheit vieler Menschen, darunter erneut viele Schülerinnen, Schüler, Lehrerinnen, Lehrer und Einwohner, um 18.00 Uhr im Gemeindesaal „Espace les Ponts“ direkt vor der mächtigen, zweiteiligen Brücke über die Loire von Daniel Queyroi eröffnet.
Danach bekam ich die Gelegenheit, über meine Forschungen, die Quellen, die Begegnungen, die Erschütterungen, die Wut, die Arbeit, die Freude und die Reaktionen zu berichten. Und meine Dankbarkeit all denen gegenüber auszudrücken, die diese bewegenden Ereignissen ermöglich haben.
Meinen besonderen Dank richtete ich an die Schülerinnen und Schülern. Ich ermutigte sie, weiter zu arbeiten, weiter aktiv zu bleiben für eine Welt ohne Rassismus, ohne Faschismus und ohne Krieg.
Danach hatten die Schülerinnen und Schüler des „Collège Paul Eluard, Gennes Val de Loire“ die Gelegenheit, ihre Arbeit vorzustellen und darüber zu berichten.
Dann wurde ich mit der Ehrenmedaille (MEDAILLE D’HONNEUR) „Avec les compliments du Maire et du Conseil Municipal“ ausgezeichnet. Und mir wurde der umfangreiche Text-Bild-Band zu/über Les Rosiers mit einer Widmung des Kulturdezernenten, Daniel Queyroi, überreicht.
Ein Rundgang durch die Ausstellung und zahlreiche Gespräche und Begegnungen rundeten die Eröffnung ab. Es war bewundernswert, wie viele ältere Besucher ihre Deutschkenntnisse in den Gesprächen und Fragen bemühten.
Besonders bewegt hat mich eine Wiederbegegnung mit der 88jährigen Josette Geffard, die sich noch an alle Einzelheiten während meines Besuches bei ihr im Jahr 1988 erinnerte.
In einem Gespräch mit dem Germanistik-Professor der Universität von Angers entstand die Anregung einer Übersetzung des Buches „Vier spanische Jungen“ in die französische Sprache durch seine Studenten als Examensarbeit.
Frage: Wie ist die Ausstellung angeordnet?
Dirk Krüger: Die Ausstellung ist in drei Teile gegliedert.
Im ersten Teil werden die Ergebnisse der Forschungen von Daniel Queyroi und Franck Marché in Les Rosiers-sur-Loire im Jahr 1997 dargestellt. Ich habe schon darüber gesprochen.
Im zweiten Teil werden in 27 thematisch gegliederten Mappen meine Originaldokumente gezeigt, darunter die Karten. Auf besonderes Interesse stieß dabei natürlich ihre letzte Karte, ihr letztes Lebenszeichen. Aber auch die Karten und Zeichnungen der kleinen Anja waren ständig umlagert. Rührende und bewegte Kommentare waren zu vernehmen. Die Schülerinnen und Schüler waren besonders an allen Dokumenten im Zusammenhang mit dem Buch „Vier spanische Jungen“ interessiert, weil sie darauf ihren Forschungsschwerpunkt gelegt hatten. Auch die zahlreiche Sekundärliteratur war ständig umlagert.
Im dritten Teil werden auf großen Tafeln die beeindruckenden Forschungsergebnisse der Schülerinnen und Schüler dokumentiert. Sie zeigen die mehrmonatige Forschungsarbeit, die sie nach bestimmten Gesichtspunkten zusammengetragen und festgehalten haben.
Frage: Wie lange wird die Ausstellung zu sehen sein?
Dirk Krüger: Bis Ende März.
Frage: Gibt es schon etwas zu den Besuchern zu sagen?
Dirk Krüger: Ja, Erfreuliches. Täglich kommen Gruppen und Einzelpersonen, Allein am Sonntag, zwei Tage nach der Eröffnung, wurden 102 Besucher gezählt. Auffallend war, dass viele Besucherinnen und Besucher Ruth und ihre Tochter gekannt haben, sich an sie und an viele Einzelheiten erinnerten. Einige haben die Verhaftungen von Ruth und besonders die von ihrer Tochter konkret miterlebt und geschildert.
Zur Soirée littéraire „Hommage à Ruth Rewald“ am 25. März mit Mathilde Léveque (maitre de conférences à l’université Paris 13) kamen 82 Besucherinnen und Besucher.
Ein Grund dafür ist sicherlich auch die beispielhafte, außerordentlich breite und informative Berichterstattung in den Zeitungen.
kommunist.de – 02.04.2016
Anmerkung zur Quelle:
Der Artikel steht unter Creativ Commons Lizenz, er ist also frei zur weiteren Veröffentlichung. Mit besten Grüßen, Michael Maercks, Redaktion kommuninisten.de.
Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung des Interviews bei der Redaktion kommunist.de – KFSR-Redaktion.
Siehe auch: http://www.nrw.vvn-bda.de/texte/1635_rewald.htm
Herr Dirk Krüger verweist in seiner Korrespondenz mit der Redaktion KFSR auf folgende Quellen und Artikel:
A) Quellen zum Thema:
- In dem Buch “Spanisches Tagebuch” von Alfred Kantorowicz (Aufbau-Verlag, Berlin 1951) ist auf Seite 328 f. eine exakte Beschreibung zu den „Vier spanischen Jungen“ zu finden.
- In dem Buch “Tschapaiew” – Das Bataillon der 21 Nationen, Madrid 1938, S. 270 ff. und S. 288/289 findet ist ebenfalls die ganze Geschichte zu finden und die Fotos von Hans Schaul enthalten. Das wurde übernommen in dem Nachdruck 1956.
- c) Nachzulesen ist die Geschichte auch in “Das Wort”, Heft 3, März 1938, S. 45 ff.
- d) In drei neueren Arbeiten gibt es auch Aussagen zu der Geschichte Ruth Rewald und ihre Bücher:
– “Argonautenschiff”, Heft 21, 2012, S. 169 ff.,
– Robert Cohen “Exil der frechen Frauen” und
– Erich Hackl (Hrsg.) “So weit uns Spaniens Hoffnung trug – Erzählungen und Berichte aus dem Spanischen Bürgerkrieg”, - Nachwort von Dirk Krüger im Buch von Ruth Rewald und Dirk Krüger „Vier spanische Jungen“ und
- Dissertation von Dirk Krüger zum Thema.
B) Artikel:
- “Für dich” 4/1989;
- Artikel “Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur!, Heft 1, 1990;
- “Kinder- und Jugendliteratur im Exil 1933-1945“;
- Katalog zur Ausstellung der Sammlung Exilliteratur der Deutschen Bücherei Leipzig, 1. Juni 1995 – 9. September 1995 und
- “RotFuchs”, August 2006, Heft 103.