Buchenwald 2005 — Rede von Kurt Goldstein

gehalten auf der Gedenkfeier des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos zum 60. Jahrestag der Selbstbefreiung auf dem Appellplatz des Konzentrationslagers Buchenwald am Sonntag, dem 10. April 2005, gegen 16.10 Uhr

 

Liebe Buchenwalder,
liebe Angehörige und Hinterbliebene unserer Buchenwalder,
liebe Kameradinnen und Kameraden aus den vielen Fronten des Widerstandes,
verehrte Anwesende,

60 Jahre ist es jetzt her, da erlebten wir hier oben in Buchenwald Apriltage, wie sie sicher einmalig in unserem Leben bleiben.

In den ersten Apriltagen hörten wir – wenn auch noch aus der Ferne – daß sich die alliierten Befreiungsarmeen dem Lager näherten. Die SS versuchte, das Lager zu evakuieren. Die Genossen der Lagerleitung taten ihr möglichstes, das zu verhindern.

Doch – zu welchen Verbrechen waren die faschistischen Verbrecher, den eigenen Untergang vor Augen, noch bereit. Zehn Wochen vorher, als sich die Rote Armee zu unserer Befreiung dem Lager Auschwitz näherte, trieben uns die SS-Leute in aller Hast und Eile gen Westen, und das war eigentlich ganz gegen die Pläne der Hiterfaschisten.

Nazideutschland hatte ja im Januar 1942 in der Villa am Wannsee in konsequenter Weiterführung der schon in Hitlers “Mein Kampf” angedeuteten Vorhaben die “Endlösung der Judenfrage” beschlossen ebenso wie die Vernichtung aller Sinti und Roma. Die Verbrecher waren zu feige zu sagen, was sie mit Endlösung meinten: Die Ermordung aller Juden, aller Sinti und Roma, vom Baby bis zum Greis.

Deshalb sollte auch kein jüdischer Häftling Auschwitz und seine Nebenlager lebend verlassen. Zur Vorbereitung hatte Himmler im Sommer 1944 angeordnet, alle nichtjüdischen Häftlinge in KZs ins Reichsinnere zu verlegen. Doch der Plan scheiterte – ein wahrer Schabernack der Weltgeschichte – in Folge einer Anordnung Hitlers. Er hatte ohne Absprache mit dem Oberkommando der Wehrmacht angeordnet, am 16. Dezember 1944 in den Ardennen eine Offensive gegen die alliierten Streitkräfte zu beginnen. Diese kamen durch die Überraschung in große Schwierigkeiten. Deshalb richtete Churchill in einem Telegramm an Stalin am 5. Januar 1945 die Bitte, die für Februar vorgesehene Offensive der Roten Armee zur Entlastung der Alliieren im Westen vorzuziehen und baldmöglichst zu beginnen. Stalin entsprach der Bitte. Und – die Rote Armee brachte die Wehrmacht so dazu, rückwärts zu stürmen, daß die Lagerleitung Mitte Januar alle Häftlinge in Richtung Reich in Marsch setzte.

Im Morgengrauen des 17. Januar begann für uns circa 3000 Häftlinge im Nebenlager Jawischowitz, in dem ich seit Juli 1942 war, der Todesmarsch. Jeder bekam ein ganzes Brot, und es erging die Weisung, seine Decke mitzunehmen. Drei Tage marschierten wir bei 15 Grad unter Null über tiefverschneite Straßen, übernachteten im Freien. Wer beim Marschieren nicht mitkam oder im Morgengrauen beim Befehl “Antreten!” nicht mehr hochkam, wurde von den SS-Banditen erschossen.

Dann wurden wir in offene Kohlenwaggons verladen. Nach zwei Tagen kamen wir in Buchenwald an. Verpflegung hat es während des ganzen Marsches und der Bahnfahrt nicht gegeben. Von den 3000 beim Abmarsch waren wir noch etwa 500, mehr tot als lebendig, als wir in Buchenwald am Lagertor aus den Händen der SS-Banditen in die der Buchenwald-Kapos kamen. Mir ist für mein ganzes Leben in Erinnerung geblieben, mit welcher geradezu liebevollen Kameradschaftlichkeit uns die Buchenwalder roten Kapos behandelten. Sie haben damit viel dazu beigetragen, daß wir allmählich auftauten und ins Leben zurückfanden.

[Beifall]

Als mir das beim Nachdenken in den ersten Tagen in Buchenwald bewußt wurde, habe ich mir vorgenommen, den Buchenwaldkameraden dafür aus ganzem Herzen zu danken. Das will ich auch heute hier auf dieser Kundgebung zum 60. Jahrestag der Selbstbefreiung des Lagers tun, die vielleicht die letzte ist, die uns Überlebende des 11. April aus allen Ländern noch einmal zusammenführt.

Als wir nach dem Duschen und dem Frühstück zum Registrieren geführt wurden, habe ich mich entschlossen, mich nicht mehr als deutscher Jude registrieren zu lassen, sondern als Sohn eines französischen Bauern, bei dem ich 1933/34 in Aviron gearbeitet hatte. Als das geschehen war, sagte der Häftling, der mich registriert hatte, ohne aufzublicken: “J’ai compris, Julio!” – “Ich habe verstanden, Julio!” Und Julio – so hieß ich in Spanien in den Internationalen Brigaden. Der wußte also, wer ich wirklich war, und ich hatte ihn nicht erkannt, bekam einen großen Schreck: Wird er mich bei der SS verraten?

Als ich dann auf dem Weg zum kleinen Lager war, traf ich meinen jugoslawischen Freund Serge Dimitrievic aus dem Lager Le Vernet, auch einen Interbrigadisten. Als ihm von meinem Schreck vom Registrieren erzählte, sagte er: “Mach dir keine Sorgen, hier in Buchenwald sind an allen wichtigen Positionen gute Genossen.”

[Beifall]

Als wir 1956 zum 20. Jahrestag der Interbrigaden ein großes internationales Treffen in Berlin, der Hauptstadt der DDR, hatten, wollte ich als Gäste der Regierung vier italienische Kameraden, die da an einem Tisch saßen, begrüßen. Da sagt einer zu mir: “J’ai compris, Julio! Wann hast du das das letzte Mal gehört?” “Bei der Registrierung in Buchenwald!” sagte ich ihm. Und er: “Das war ich! Und dann habe ich auch gleich den deutschen Kameraden Bescheid gesagt, daß du hier bist.”

Durch meine französischen, jugoslawischen und andere Kameraden und einige deutsche Interbrigadisten erfuhr ich dann im Lauf der Wochen, daß es in Buchenwald gelungen war, in zähem Ringen und Stück für Stück die Einheit aller aktiven Antifaschisten zu schaffen, die Einheit im erbitterten Widerstandskampf aller Parteien und die Einheit aller Nationen. Das war die Grundlage dafür, daß die internationale Widerstandsorganisation in allen nationalen Gruppen bewaffnete Einheiten schaffen konnte. Die lagen jetzt in Bereitschaft, und sie bereiteten sich auf den Endkampf mit den SS-Banditen vor. Der fand am 11. April statt.

Die 3. Amerikanische Armee hatte mit ihrem Angriff auf Erfurt begonnen, der Donner der Geschütze kam immer näher, in der Luft erschienen im Laufe des Vormittags zuerst amerikanische Aufklärungsflugzeuge, und dann konnten wir auch Jagdbomber bei ihren Angriffsflügen vom Lager aus beobachten. Gegen 14 Uhr sahen wir dann, wie unsere bewaffneten Kameraden den Stacheldrahtzaun und die Wachtürme gestürmt haben. Die SS-Leute wurden gefangen genommen. Insgesamt nahmen die bewaffneten Häftlingseinheiten bei der unmittelbaren Befreiung des Lagers 120 SS-Leute und in der Umgebung weitere 100 SS-Leute gefangen. Sie wurden im Lager eingesperrt, keinem wurde ein Haar gekrümmt, und sie wurden den Amerikanern als Kriegsgefangene übergeben. Gegen 16 Uhr verkündete der Lagerälteste I, Kamerad Hans Eiden, über alle Lautsprecher: “Kameraden, wir sind frei!”

[Beifall]

Für mich war meine zwölfjährige Reise von Deutschland nach Deutschland beendet. Sie hatte im März 1933 begonnen, als ich in Scharnhorst bei Dortmund in meinem illegalen Quartier verhaftet wurde. Aber ich konnte den Gendarmen entfliehen. Nun ist sie hier in Buchenwald, diese zwölfjährige Reise, durch die Selbstbefreiung des Lagers von innen und durch die bewaffneten Militäreinheiten der amerikanischen Armee von außen beendet worden.

Dabei, das muß ich hier sagen, hätte ich sie so gerne im Januar in Auschwitz durch die Rote Armee erlebt, die durch ihre Siege vor Moskau, bei Stalingrad und im Kursker Bogen die Wende im 2. Weltkrieg herbeigeführt und die Armeen Hitlerdeutschlands für endgültig auf die Verliererstraße gezwungen hatte.

[Beifall]

Sie befreiten das Lager Auschwitz am 27. Januar. Seit 1996 ist dieser Tag in Deutschland ein Gedenktag für alle Opfer des Hitlerfaschismus, an dem wir Überlebende uns in Dankbarkeit an alle erinnern, die den Sieg über den Hitlerfaschismus herbeigeführt haben: Die alliierten Armeen in Ost und West und die deutschen antifaschistischen Kameradinnen und Kameraden, die in all diesen Armeen mitgekämpft haben, ebenso wie die Frauen und Männer in den Partisanenverbänden und die Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer in allen von Hitlerdeutschland besetzten Ländern und auch in Deutschland.

[Beifall]

Nach der Befreiung am 11. April beschloß das Internationale Lagerkomitee, am 19. April abends auf dem Appellplatz eine Trauerfeier für die 52 000 in Buchenwald Ermordeten durchzuführen. Am Ende dieser Trauerfeier wurde der in die Weltgeschichte eingegangene Schwur von Buchenwald in französischer, russischer, polnischer, englischer und deutscher Sprache verlesen und die 21 000 versammelten Häftlinge beschworen ihn. In seinen Kernaussagen ist er heute so gültig wie vor 60 Jahren:

[Beifall]

Wir schwören deshalb vor aller Welt auf diesem Appellplatz, an dieser Stätte des faschistischen Grauens:
Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht.
Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung.
Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.
Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig.

[Beifall]

Wenn wir heute nach jahrzehntelangem Ringen für die Verwirklichung unseres Schwures von Buchenwald Bilanz ziehen, dann müssen wir mit Bedauern feststellen, daß es uns in unserem deutschen Heimatland nicht gelungen ist, alle Naziverbrecher vor Gericht zu bringen. Wir sind auch weit davon entfernt, von einer Welt des Friedens und der Freiheit sprechen zu können.

[Beifall]

Gegenwärtig aber ist das Beunruhigendste, daß es nicht gelungen ist, die Wurzeln des Nazismus zu vernichten. Bert Brecht, unser großer antifaschistischer, humanistischer Schriftsteller, hatte gewarnt: “Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.” Und jetzt erleben wir täglich, in Straßen und Länderparlamenten die wachsenden Aktivitäten der Neonazis. Man stelle sich vor, das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, hält die Demonstrationsfreiheit für ein so hohes Gut, daß die Nazis in Wunsiedel, dem Geburtsort des Hitlerstellvertreters Heß, zu dessen Ehre demonstrieren dürfen.

[Pfui! von allen Seiten]

Aber nicht genug damit, liebe Freundinnen und Freunde! Im Bochum beschließt die Stadtverordnetenversammlung, die in der Pogromnacht der Nazis im November 1938 abgefackelte Synagoge wieder aufzubauen. Dagegen wollen die Neonazis demonstrieren. Städtische und Landesorgane in Nordrhein-Westfalen verbieten diese Demonstration. Und wieder, es ist kaum zu glauben, aber es ist Tatsache: Die Richter in Karlsruhe erlauben auch diese Demonstration.

[Pfui! von allen Seiten]

An dieser Stelle muß ich mir erlauben, eine Bemerkung zu machen zu zwei Reden, die heute morgen im Staatsakt [gemeint ist eine geschlossene Veranstaltung im Nationaltheater Weimar – d. Red.] gehalten worden sind, und wo der Herr Ministerpräsident von Thüringen, Althaus, und Herr Spiegel meinten, daß der angeblich in der DDR verordnete Antifaschismus den Weg bereitet hätte für das Wiederauftauchen der Neofaschisten in Deutschland.

[starkes Buh, Pfiffe]

Ich stehe hier vor Ihnen allen als einer, der 1945, als wir hier in Buchenwald befreit waren und aus dem Lager gehen konnten, nach Weimar heruntergegangen ist und als Jugendsekretär in Thüringen gearbeitet hat und kreuz und quer in den Thüringer Landen antifaschistische Jugendausschüsse gebildet hat mit der Unterstützung unseres Buchenwaldkameraden Walter Wolf, der zu der Zeit in Thüringen Minister für Volksbildung war.

Mit diesen antifaschistischen Jugendausschüssen haben wir im Herbst 1945 eine Aktion gemacht “Sammelt Äpfel für die verhungerten Kinder in Berlin”. Die jungen Mädels und Jungs sind hier in Thüringen von Haus zu Haus gewandert und haben Äpfel gesammelt, und wir haben Tonnen um Tonnen Äpfel für die hungernden Kinder nach Berlin gebracht. Und als die Solidaritätsaktion beendet war, haben wir eine zweite Aktion gemacht. Die Losung hieß “Sammelt Holz für die Kriegerwitwen des verbrecherischen Nazikrieges”. Da haben unsere Jugendlichen fuderweise Holz gesammelt, damit die Witwen im Winter warme Stuben hatten. Und die dritte und letzte Aktion war “Bastelt in den Heimabenden Spielzeug für die Kinder zu Weihnachten”, und auch das ist geschehen. So haben wir in der DDR Antifaschismus in die jungen Generationen gebracht – 40 Jahre lang.

[Beifall]

Wenn es heute in Deutschland wieder Faschismus gibt, dann muß ich dazu sagen: Nach dem Ersten Weltkrieg schrieb ein deutscher Schriftsteller ein Buch “Der Kaiser ging, die Generale blieben”. Und 1945 haben Adenauer und seine Mitstreiter gesagt: “der Hitler ging”, aber das ganze Nazigesindel, in der Verwaltung, die Blutrichter, die Wirtschaftsführer, alle, alle blieben in ihren Funktionen, die Gestapo, die Polizei. Und da wundert man sich, daß es heute in Deutschland wieder Faschismus gibt? Ich sage: Die, die das damals gemacht haben, die haben die Grundlagen dafür gelegt.

[starker Beifall]

Unser aller verehrter Kamerad und Freund Pierre Durand, der langjährige Präsident unseres Internationalen Buchenwaldkomitees, hat dazu im März 2001 gesagt:

“Und die Lage ist, wir wir alle wissen, seitdem nicht besser geworden. Der Kampf ist noch nicht zu Ende. Auch heute noch wird überall auf der Welt im Namen Gottes, der Freiheit oder aus Rache und ohne das Recht jedes einzelnen, auch seine Spezifik zu beachten, getötet, vergewaltigt und gefoltert. Wie vor hunderttausend und mehr Jahren unterdrücken überall die Starken die Schwachen, und die Reichen unterdrücken die Armen.
Afrika wird durch AIDS zerstört. Rinderwahnsinn, Maul- und Klauenseuche bedrohen Europa. Die Todesstrafe ist eine Schande für die USA und Frankreich. Und in Deutschland unterhöhlt Rassismus, Antisemitismus und Ausländerhaß die Gesellschaft.
Aber, liebe Freunde, wir sind nicht die Klageweiber der Weltgeschichte. Wir sind der noch lebende Beweis dafür, daß der Kampf für Frieden, Freiheit und Glück immer möglich ist. Unser langes Leben hat uns gelehrt, daß man nie aufgeben darf, daß man im Herzen die Flamme der Hoffnung und den Willen bewahren muß, eine bessere Welt aufzubauen. Eine Welt, die der Menschheit würdig ist. Diesen Wunsch haben wir am 19. April mit unserem Schwur ausgedrückt.”

Diesen Worten meines Freundes Pierre Durand kann ich nichts hinzufügen, als das, aus tiefster Überzeugung und ganzem Herzen mich ihm anzuschließen, und solange ich auf dieser Welt rumtanze, für diese Ziele zu kämpfen. Ich danke euch.

[langanhaltender Beifall, Sprechchöre: Hoch die internationale Solidarität!]

Redaktion KFSR

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